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Archiv 2023


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Inhalt 2023


Großes Autorenfoto: Dr. Christian G. PätzoldRebecca Scharf2023/12/24
Großes Autorenfoto: Wolfgang WeberDr. Pätzold2023/12/21
Großes Autorinnenfoto: Sabine RaheAmber Rahe2023/12/18
Großes Autorinnenfoto: Dagmar Sinn2023/12/15
Großes Autorinnenfoto: Reinhild PaarmannKarl-Heinz Wiezorrek2023/12/12
Anthologie »Maloche« ist erschienen2023/12/09
Wiener MelangeDagmar Sinn2023/12/06
Über Revolutionäre Arbeiterschriftsteller2023/12/03
Yo soy El GordoWolfgang Weber2023/12/02
JahresendeDagmar Sinn2023/11/26
ZukunftSabine Rahe2023/11/23
Ballhaus Naunynstraße: Migrantische PerformancesDr. Pätzold2023/11/19
Plötzlich lief ein Elch über die StraßeDagmar Sinn2023/11/16
Lebenserwartung in Deutschland2023/11/13
Hornissennest im MeisenkastenElla Gondek2023/11/10
Was so Alles zum Verschenken an der Straße liegtDr. Pätzold2023/11/06
Chopin im BelvedereWolfgang Weber2023/11/02
AuschwitzDagmar Sinn2023/10/27
WS Burroughs und die Beatniks IIDr. Krautschick2023/10/24
WS Burroughs und die Beatniks IDr. Krautschick2023/10/21
Auf den Spuren von Thomas MüntzerReinhild Paarmann2023/10/17
schreib' dein' textWolfgang Weber2023/10/13
Oktoberimpression: GinkgoDr. Pätzold2023/10/10
Tagebuch 1973, Teil 69: Kuala LumpurDr. Pätzold2023/10/06
Tagebuch 1973, Teil 68: MalakkaDr. Pätzold2023/10/02
Nachruf für Markus Richard SeifertJürgen Karwelat2023/09/28
dedicationDr. Pätzold2023/09/25
Pablo Neruda zum 50. Todestag2023/09/21
Jack Kerouac: Quotes2023/09/17
Jack Kerouac: Die DharmajägerWolfgang Weber2023/09/13
Victor Jara zum 50. Todestag2023/09/09
AusverkaufSabine Rahe2023/09/05
Lavendelanbau in DeutschlandDagmar Sinn2023/09/01
Schwarze PädagogikDr. Pätzold2023/08/28
Zaun-WickenDr. Endler2023/08/25
berliner geheimspracheDr. Pätzold2023/08/22
Leuchtturm Darßer OrtEnrico Neumann2023/08/18
aktuelle gräueldatenDr. Pätzold2023/08/14
Tyrannosaurus rexDr. Pätzold2023/08/10
Pollinator PathmakerDr. Alexandra Daisy Ginsberg2023/08/06
SommerlochDagmar Sinn2023/08/03
Blaue HortensienheckeDagmar Sinn2023/08/02
Nachruf für Dr. Hans-Albert WulfHannelore Bernotat2023/07/27
Kein PersonalDagmar Sinn2023/07/24
KüchenstilllebenDr. Pätzold2023/07/21
Blog der Wokeness2023/07/18
Bilder vom Karneval der KulturenDr. Pätzold2023/07/14
Dramolett vom WeddingWolfgang Weber2023/07/10
Tagebuch 1973, Teil 67: SingapurDr. Pätzold2023/07/06
Tagebuch 1973, Teil 66: Colombo - SingapurDr. Pätzold2023/07/02
Hanns Eisler zum 125. Geburtstag2023/07/01
Abendstimmung in TrastevereDagmar Sinn2023/06/28
Wir waren...Sabine Rahe2023/06/26
malocheDr. Pätzold2023/06/24
malochen malochenWolfgang Weber2023/06/21
Karl Hagemeister: Das Ende der MalereiBröhan-Museum2023/06/18
Reise-Impressionen aus Indien IVReinhild Paarmann2023/06/14
Reise-Impressionen aus Indien IIIReinhild Paarmann2023/06/11
Reise-Impressionen aus Indien IIReinhild Paarmann2023/06/08
Reise-Impressionen aus Indien IReinhild Paarmann2023/06/06
RosenzeitDr. Pätzold2023/06/02
Anna Seghers zum 40. Todestag2023/05/27
Beethovens WitweDr. Wulf2023/05/24
FliederzeitDr. Pätzold2023/05/21
Jan Vermeer van Delft: Das Mädchen mit dem PerlenohrringDr. Pätzold2023/05/17
Bücherverbrennung vor 90 Jahren2023/05/14
MaiglöckchenzeitDr. Pätzold2023/05/11
150 Jahre Villa Hügel IIDagmar Sinn2023/05/07
150 Jahre Villa Hügel IDagmar Sinn2023/05/04
Grüße zum 1. MaiEl Lissitzky2023/05/01
Atomkraft ? Nein Danke !Dr. Pätzold2023/04/26
Erinnerung an Georg ElserDr. Pätzold2023/04/26
Die Situation der BiobrancheGeorg Lutz2023/04/19
Alfons Mucha: Frühling2023/04/16
Alles wird gutDagmar Sinn2023/04/14
Die Vulkaninsel Corvo der AzorenDagmar Sinn2023/04/13
Der SchaschlikWolfgang Weber2023/04/10
Tagebuch 1973, Teil 65: Kandy/Sri LankaDr. Pätzold2023/04/06
Tagebuch 1973, Teil 64: Colombo IIDr. Pätzold2023/04/02
Egon Erwin Kisch zum 75. TodestagDr. Pätzold 2023/03/30
Der Bohemien Erich Mühsam2023/03/27
zur psychologie der bohèmeDr. Pätzold2023/03/23
FrühjahrsanfangDr. Pätzold2023/03/20
"Berlin ist die Resterampe der Republik"2023/03/17
Das HeimchenDr. Pätzold2023/03/14
Kaputter russischer Panzer vor der russischen BotschaftDr. Pätzold2023/03/12
Erleuchtung im Hotel in HurghadaAnonyma2023/03/11
Cozido à portuguesaDagmar Sinn2023/03/08
FloßWolfgang Weber2023/03/05
Anastasia Samoylova: FloridasC/O Berlin2023/03/02
Fahrradwege in BerlinDr. Pätzold2023/02/25
"Ich freue mich, wenn es regnet"Karl Valentin2023/02/22
FenchelhonigDagmar Sinn2023/02/19
EngpässeDagmar Sinn2023/02/16
krankenversichert ?Dr. Pätzold2023/02/13
Bertolt Brecht zum 125. Geburtstag2023/02/10
Wolfgangs WurzelnWolfgang Weber2023/02/06
Black History Month in BerlinDr. Pätzold2023/02/02
Mahatma Gandhi zum 75. TodestagDr. Pätzold2023/01/28
Greta Thunberg ist 202023/01/25
14 x nichts passiert oder Sie lebt nochReinhild Paarmann2023/01/21
Otto Pankok: Das Sinti-Mädchen EhraDagmar Sinn2023/01/18
The grill's gone nowWolfgang Weber2023/01/15
Tagebuch 1973, Teil 63: Colombo/Sri LankaDr. Pätzold2023/01/12
Historischer Überblick Ceylon/Sri LankaDr. Pätzold2023/01/09
Tagebuch 1973, Teil 62: Madras IV - ColomboDr. Pätzold2023/01/05
Das Kriegsjahr 2022Dr. Pätzold2023/01/01


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2023/12/24


Großes Autorenfoto: Dr. Christian G. Pätzold


drpaetzold
In der Pizzeria siciliana, Berlin, April 2023.
Fotografiert von Rebecca Scharf.


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2023/12/21


Großes Autorenfoto: Wolfgang Weber


wolfgangweber
Im Volkspark Friedrichshain, Berlin, September 2023.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/12/18


Großes Autorinnenfoto: Sabine Rahe


sabinerahe
In Kreta, September 2023.
Fotografiert von Amber Rahe.


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2023/12/15


Großes Autorinnenfoto: Dagmar Sinn


dagmarsinn
In Masuren, August 2023.


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2023/12/12


Großes Autorinnenfoto: Reinhild Paarmann


reinhildpaarmann
In Indien, hinter Schilfrohr an einem See, 2023.
Foto von Karl-Heinz Wiezorrek.


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2023/12/09


Anthologie »Maloche« ist erschienen


maloche


Zehn Autor*innen - ihr verdichteter Blick auf die Arbeitswelt und das Thema Maloche.
Brisant, Kämpferisch, Berührend

Maloche
Die Anthologie 2023
Herausgeberin: Sabine-Simmin Rahe - Edition Dorettes

Autor*innen:
Diandra Behrbalk, Maria Donner, Thomas Eichler, Andreas Nettesheim, Dr. Christian G. Pätzold, Richard Pfund, Sabine-Simmin Rahe, Dan K. Sigurd, Christian Wagner, Wolfgang Weber

Norderstedt 2023, Books on Demand (BoD)

Paperback, 44 Seiten
ISBN 978-3-75830-439-2
Preis: 7,29 €


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2023/12/06


Wiener Melange


wienermelange
Im Café Ritter, Wien, Mariahilfer Straße 73.
Foto von © Dagmar Sinn, September 2023.


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2023/12/03


Vortrag: Über Revolutionäre Arbeiterschriftsteller
Dienstag, 5. Dezember 2023, 10 Uhr, Karl-Liebknecht-Haus, Berlin


Der Seniorenclub der Hellen Panke schreibt:

"Der Vortrag soll zu einer neuen Lektüre der Romane revolutionärer Arbeiterschriftsteller um 1930 anregen. Erörtert werden Thematik und Darstellungsweise der Bücher von Ludwig Turek (1898-1975), Adam Scharrer (1889-1948), Hans Marchwitza (1890-1965) und anderen. Sie berichten vom Leben und Kampf der Arbeiterklasse, von Bewährung und Versagen in Weltkrieg und Nachkriegskrise. In ihnen bleibt eine Tradition der Solidarität lebendig, die nicht verloren gehen darf."

Referent: Prof. Dr. Dieter Schiller
Moderation: Christian Beyer
Wo? Karl-Liebknecht-Haus, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin
Kosten: 2 Euro


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2023/12/01


Wolfgang Weber
Yo soy El Gordo


Wo hab ich mein Los gelassen? Kollektiver Aufschrei in Spanien, immer kurz vor Weihnachten. El Gordo, der Dicke, ist ein Super-Jackpot, der bereits seit 1812 ausgeschüttet wird. Immer kurz vor Weihnachten geht es los, richtig heftig los. Die Spanier sind los gelassen, die Lose auch. Sie stehen zum Verkauf. Überall werden sie angeboten.

Alle, wirklich alle, auch die, die sonst keine Lose kaufen, tun genau das, rennen los, kaufen ein Los oder mehr. Sie überrennen die Verkaufsstellen, kennen keine Hemmschwellen. Sie kaufen die Lose der traditionellen Weihnachtslotterie, offiziell: Sorteo de Navidad, Auslosung zu Weihnachten. Immer am 22. Dezember, vormittags in Madrid, findet die große Ziehung statt. Man kann die Lose bereits ab Mitte Juli eines jeden Jahres erwerben. Da werden sie los gelassen. Alle, alle rennen sie zu den Lotterieannahmestellen im ganzen Land, um sich eine Chance zu sichern, einen ganz großen Gewinn ausgezahlt zu bekommen.

Weil so viele Leute Lose kaufen, gibt es einen regelrechten Run darauf. Deshalb steigt der Umsatz der Einnahmestellen immer am Ende des Jahres stark an. Allein ein Viertel des Jahresumsatzes entfällt auf El Gordo, die Weihnachtslotterie. So viele Leute kaufen Lose oder Bruchteile davon, so dass der einzelne Gewinn nicht unbedingt sehr groß ausfällt. Zwar kann der erste Preis vier Millionen €uro pro Los betragen, increible, unglaublich aber wahr. Aber viele Lose werden von Tippgemeinschaften gekauft, dann entfällt auf den Einzelnen nur ein Bruchteil des Gewinns.

Ganze Dörfer beteiligen sich, es ist wie ein Fieber, das von El Gordo. Los lassen ist also die Devise, lasst Eure Lose los, legt sie vor, löst sie ein. Wie bei allen Lotterien gibt es nur eine begrenzte Zeitspanne dafür. Wer zu spät kommt, vielleicht verreist war, hat sein Los, zu spät, los gelassen. Dann gibt es gar nichts, nicht ein Fitzelchen.

Alptraum jedes Spielers, jeder Spielerin, Lotto, Toto, sonst was: Schein verlegt, versehentlich weg geworfen, zerknüllt, darauf gesessen, mit der Dreckwäsche gewaschen, nicht auffindbar, weg, einfach weg. Hinter dem Schrank, unter den Tisch gefallen, im Mülleimer, in der Papiertonne, schon abgeholt, das Schlimmste von allem.

Dann gilt es, tief ein und aus und durch zu atmen, los zu lassen. Wo hab' ich bloß das Los gelassen? Noch einmal alles durchgehen. Wo bist Du gewesen? Was hast Du gemacht? Tief in Gedanken, ohne Schranken. Ach ja, ich habe gut reden. Ich kaufe weder Lose von Lotterien noch vom Toto. Ich mache bei keinem Glücksspiel, keinem Rubbelspiel mit. So entgehen mir vielleicht Gewinne, vielleicht auch nicht. Kein Suchen nach Losen, die los gelassen. Da mache ich nicht mit, höre lieber die Musik von Fats Domino: They call me the Fat Man, 'cause I weigh two hundred pounds. Zuerst veröffentlicht bereits 1949, also vor über 70 Jahren. Eine zeitlose Nummer, auch im Repertoire der Blues Rock Gruppe Canned Heat, deren Sänger Richard "The Bear" Hite war noch viel dicker als Fats Domino.

Sie nennen mich den Dicken, Yo soy El Gordo, denn ich bin zweihundert Pfund schwer. Im Original Fats Domino, Klavier und Gesang, dazu eine kleine Combo, Saxophon, Schlagzeug, Kontrabass, Gitarre, Rhythm & Blues der alten Definition, manche nennen es auch Rock'n'Roll. Ich bin El Gordo, der Super-Jackpot, millionenschwer. Alle sind sie auf der Jagd nach dem Glück.

Den Fat Man interessiert das nicht, er ist ganz gelassen, laid back, relaxed. Er hat alle Zeit der Welt, ist nicht so wild auf die Jagd nach dem großen Geld. They call me the Fat Man 'cause I weigh two hundred pounds, all the girls love me 'cause I know my way around.

Sie nennen mich den Dicken, El Gordo, denn ich wiege zweihundert Pfund, die Frauen rennen mir die Bude ein. Denn ich hab' den Jackpot gewonnen, bin El Gordo, millionenschwer, Yo soy El Gordo, Señor Jackpot persönlich. Nun hab' ich ganz viele neue Freunde, alle wollen mein frisch gewonnenes Geld, das Geld von El Gordo. Was oder wen will ich los lassen? Das viele viele Geld oder meine neuen Freunde? Die Antwort fällt schwer. Glückwunsch, felicitations Señor El Gordo.

© Wolfgang Weber, Dezember 2023.


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2023/11/30


vorschau12


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2023/11/26


Dagmar Sinn
Jahresende


Warm wird es zum Jahresende -
Energie ganz ohne Wende,
denn es heizt die Politik:
Dauerärger frisch am Stück.

Was uns jetzt in Atem hält -
Krisen sammeln in der Welt.
Dank Ukraine - Dauerbrenner
werden wir zum Waffenkenner.
Israel wird überfallen,
in Nahost Raketen knallen.
Nirgends ist der Krieg mehr weit,
wir fühlen stets Betroffenheit.

Hier zuhause lernt man hoffen,
was auch kommt, man ist betroffen.
"Turbo-Job" wird jetzt gezündet,
jeder eine Arbeit findet.
Heftig wird nun integriert,
dass man keine Zeit verliert.
In der Schule, Klasse neun
liest und schreibt man von allein (!)

Digital solln Euros werden -
was gibts Schöneres auf Erden.
Cannabis wird bald legal,
wo und wie ist fast egal,
und der Weihnachtsbaum wird teuer,
all das ist uns nicht geheuer.
Herbst und Winter - dunkle Zeit,
seid getrost, macht euch bereit.
Was wir uns wünschen, selten klar:
werde besser, neues Jahr!

© Dagmar Sinn, November 2023.


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2023/11/23


Sabine Rahe
Zukunft


Weder traurig, noch vergnügt.
Weder lustig, noch betrübt.
Vor mir - was?
Doch stehe ich nicht allein.

Ich sehe unsere Kraft.
Lasst uns die Zukunft sein.
Träumerinnen, Poetinnen,
Malocherinnen und Weltverbesserinnen.

Die Schinder verlachen wir
und kränzen unsere Häupter mit Blumen.
Wir nehmen einander die Ketten ab
und tanzen mit den Musen.

Wer gestrauchelt war,
dem helfen wir auf.
Wer gebeugt wurde,
den richten wir auf.

Wer Trauer trägt,
dem stehen wir bei,
damit auch er - eines Tages -
gestärkt und frohen Mutes sei.

Ja, WIR wollen die Zukunft sein!
Die Welt wollen wir freundlich gestalten
und alle Tyrannei zur Stadt hinaus geleiten.
Nach uns werden die Waffen schweigen,
wir werden auch Krieg und Opfertod vertreiben.

Müssen wir auch listig sein,
um unser Ziel zu erreichen,
wir werden doch auf lange Sicht
etwas Besseres als die Alltäglichkeit
von Zynismus, Härte, Dummheit
und Gnadenlosigkeit erstreiten.

© Sabine Rahe, November 2023.


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2023/11/19


Ballhaus Naunynstraße: Migrantische und Postmigrantische Performances
Naunynstraße 27, Berlin Kreuzberg

von Dr. Christian G. Pätzold


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Theaterstück »Auf dem Mars sieht die Welt so aus« mit Son Pham und Yummi.
Foto: Ballhaus Naunynstraße.


Die Straßen in Kreuzberg SO 36 sind lebendig am Abend. Spätis, Dönerläden, Barber Shops, Waschsalons, Tatoo Studios haben geöffnet. An den Ecken diskutieren türkische Männergruppen, vielleicht über den Krieg in Gaza. Adalbertstraße Ecke Naunynstraße. Ich sitze am Biergartentisch vor dem Späti und schlürfe an meinem Espresso. Türkisch, Arabisch, Englisch, Spanisch und etwas Deutsch sprechen die Leute auf der Straße. Ein Pfandflaschensammler greift tief in den Mülleimer am Straßenschild und findet tatsächlich etwas.

Es ist erfrischend zu sehen, dass es in Berlin Kreuzberg SO 36 ein Theater gibt, in dem Menschen aus der ganzen Welt auftreten, sich darstellen oder ihre Perspektiven auf die Bühne bringen wollen. Angeblich gibt es das sonst nirgendwo in Deutschland. Es sind besonders Menschen mit einer eigenen Migrationserfahrung oder mit postmigrantischen Erfahrungen in ihrer Familie. So war es auch in dem Stück »Auf dem Mars sieht die Welt so aus«, das ich angeschaut habe. Die Schauspieler:innen Son Pham und Yummi sind vietnamesischer Herkunft und in Deutschland geboren. Sie sind junge, sehr talentierte Schauspieler:innen. Das Theaterstück entstand vollständig am Ballhaus Naunynstraße, eine echte Eigenproduktion (Uraufführung). Den Text des Stückes schrieb Patty Kim Hamilton. Die Regie hatte Marque Lin.

Der Inhalt der Aufführung ist schnell erzählt. Es geht um eine Geschwisterbeziehung. Bruder und Schwester sind als Kinder ein Herz und eine Seele. Als junge Erwachsene entwickeln sich jedoch ihre Ansichten auseinander. Der Bruder wird immer konservativer, während seine Schwester immer fortschrittlichere Meinungen, bspw. zum Schwangerschaftsabbruch, vertritt. Das Ganze endet damit, dass die Geschwister nicht mehr miteinander sprechen können.

Die doch recht dünne Story reichte gerade aus, um die 1½ Stunden der Aufführung zu füllen. Allerdings hat mich überrascht, dass es nichts zur Geschichte Vietnams gab, auch nichts zum Vietnam-Krieg, nichts zur Migrationsgeschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen in der DDR, nichts zum Migrationshintergrund der vietnamesischen Boat People in der BRD. Das Stück blieb sehr im Allgemeinen und Beliebigen, obwohl offensichtlich war, dass die Schauspieler:innen Vietnames:innen sind und eine interessante Migrationsgeschichte haben müssen. Auch der Mars spielte im Stück keine Rolle, wie man vielleicht beim Titel denken könnte.

In dem Stück gab es auch nichts zur schwierigen Situation der Vietnames:innen nach dem Mauerfall, als alle ihre Arbeit verloren. Viele Vietnames:innen mussten unversteuerte Zigaretten verkaufen, um sich über Wasser zu halten. Sie wurden Fidjis genannt. Sicherlich gibt es viele Schwierigkeiten, die Vietnames:innen im Alltagsleben in Deutschland erfahren. Es gibt Fremdenhass, Rechtsextremismus, Benachteiligungen von Migrant:innen überall. Das alles könnte man ansprechen. Und würde ich von einem migrantischen Theater erwarten. Aber etwas Gesellschaftskritisches war nicht zu entdecken. Wenn schon migrantisches Theater, dann aber richtig. Man könnte den jungen Menschen im Publikum auch etwas migrantische Geschichte vermitteln.

Das Vorderhaus vom Ballhaus Naunystraße ist ein typischer Kreuzberger Altbau aus der Kaiserzeit. Der Theatersaal befindet sich in einem Hinterhaus auf dem Hof. Alles ist spitzenmäßig renoviert. Ich hatte den Eindruck, dass hier Millionen investiert wurden. Es gibt sogar einen Fahrstuhl in den Keller, in dem sich eine Bar mit zivilen Preisen befindet. Alles ist barrierefrei für Rollstuhlfahrer:innen. Freundliche Mitarbeiter:innen geben überall Auskünfte. Die Bühnentechnik ist auch in modernstem Zustand. Nach Ende der Aufführung hat sogar der brasilianische Theaterleiter Wagner Carvalho die Zuschauer über kommende Veranstaltungen informiert. Das Publikum war zufrieden.

Das Ballhaus Naunynstraße hat schon eine lange Geschichte, die, wie der Name sagt, mit Tanz-Bällen zur Zeit des vergnügungssüchtigen Berliner Fin de Siècle um 1900 begann. Wenn man zu einem Tanz-Ball eingeladen war, gehörte man zur "besseren Gesellschaft". Männer und Frauen konnten ihre besten Kleider zur Schau stellen. Sehen und Gesehen werden. Der originale Stuck befindet sich noch heute an der Decke des Theatersaals. Das Ballhaus Naunynstraße schreibt zur Geschichte des Hauses:

"In diesem Ballsaal im Herzen Kreuzbergs, in dem einst Royalist*innen tanzten, Anarchist*innen ihre Treffen hatten, der in der NS-Diktatur zum Zwangsarbeiter*innenlager wurde und im Kalten Krieg, in der Nähe der Grenze, zur Resonanzlosigkeit verurteilt war und der fast für die Vision einer Autostadt hätte weichen müssen, setzte Shermin Langhoff 2008 eine Zäsur. Die Zuwanderungsgeschichte seit den 1950er Jahren hatte zwar zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands geführt, aber nicht zur kulturellen und politischen Teilhabe und Mitgestaltungsmacht der Zugewanderten oder ihrer Nachfahren. Nun, als postmigrantisches Theater, bot das Ballhaus Naunynstraße eine institutionalisierte Bühne, einen Raum für zuwanderungserfahrene Protagonist*innen und ihre Erzählungen, es gab einen neuen kulturellen Resonanzraum.

Seit 2013, unter der künstlerischen Leitung und Geschäftsführung von Wagner Carvalho (von Spielzeit 12/13 bis Nov. 2014 gemeinsame Leitung mit Tunçay Kulaoğlu), stehen Schwarze Perspektiven, Perspektiven of Color und queere Perspektiven zunehmend im Fokus. Seitdem agiert das Haus als Impulsgeber für eine Reflexion postkolonialer Strukturen in Alltag und Kunst, es interveniert für die gesellschaftliche Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands, des strukturellen Rassismus und intersektionaler Ausschlussmechanismen. In einer so strukturierten Gesellschaft schafft das Ballhaus Naunynstraße einen singulären Rahmen für die Begegnung von Schwarzen, queeren und Künstler*innen of Color, für die selbstbestimmte Produktion von Kunst, für die Entwicklung eigener Narrationen. Damit ist das Ballhaus Naunynstraße in Deutschland bzw. europaweit einzigartig.

Voraussetzung dieses Modells Ballhaus Naunynstraße, Voraussetzung für die Entwicklung von neuen Perspektiven in den darstellenden Künsten, sind Kontinuität und Nachhaltigkeit. Die Schaffung von Zugängen für junge Künstler*innen und die Möglichkeit des Quereinstiegs haben somit ebenso Priorität wie die Nachwuchsförderung über die kulturelle Bildung der akademie der autodidakten. Hinzu kommt eine kontinuierliche thematische Entwicklung mit Eigenproduktionen und internationalen Gastspielen, mit Theater, Tanz, Performances, Lesungen, Diskussionsveranstaltungen, Filmreihen, Konzerten und interdisziplinären Festivals..."


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2023/11/16


Und plötzlich lief in Masuren ein junger Elch gemütlich über die Straße


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Kurz vor Steinort. Foto von © Dagmar Sinn, August 2023.
Der Elch ist ein imposantes Lebewesen, und trotzdem läuft er so grazil auf seinen Zehenspitzen.


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2023/11/13


Durchschnittliche Lebenserwartung


Durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland
männlich: 78,3 Jahre (2022)
weiblich: 83,2 Jahre (2022)

Durchschnittliche Lebenserwartung in den USA
männlich: 75,5 Jahre (2022)
weiblich: 81,0 Jahre (2022)

Durchschnittliche Lebenserwartung in Japan
männlich: 81,8 Jahre (2022)
weiblich: 87,8 Jahre (2022)

Vielleicht sollten wir mehr kalten Reis mit rohem Fisch essen.

Quellen:
• Statistisches Bundesamt
• https://de.statista.com


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2023/11/10


Beeindruckendes Hornissennest im Meisenkasten


hornissennest
Es ist erstaunlich, was die Hornissen bauen können.
Foto von © Ella Gondek im Garten, September 2023.


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2023/11/06


Was so Alles in Berlin zum Verschenken an der Straße liegt

fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold


verschenken1
Bibliotheken für den Kopf.


verschenken2
Bratpfannen zum Kochen.


verschenken3
Kuscheltiere und Schuhe für die Kids.


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2023/11/02


Wolfgang Weber
Chopin im Belvedere


Ein Flügel mit Lichterketten im Hotelfoyer. Eine steinerne Kuh mit Autogrammen. Chopin spielt heute nicht, nicht heute, heute nicht. Weder seine Walzer, noch seine Polonaisen oder Nocturnes, auch nicht seine Klavierkonzerte. Chopin spielt heute nicht. Zwei Vornamen, eine Person, Fryderyk, zweimal Y, Frédéric, zweimal E mit Akzent.

Liszt spielt heute Abend auch nicht. Die Salonlöwen sind verreist. Liszt spielt nicht, Chopin spielt nicht, Lang Lang spielt nicht, Alfred Brendel spielt nicht. Auch Friedrich Gulda spielt nicht. Er hat seine nächsten Termine im Klavierhimmel, schon auf fünf Jahre im Voraus gebucht. Das Programm selbst aber ist vollkommen spontan. Victor Borge, der dänische Comedian am Klavier, spielt auch nicht. Bill Evans, Duke Ellington, Vladimir Horowitz, Giganten am Flügel, sie alle spielen nicht.

Aber ganz am Schluss, da kommen sie doch noch alle vorbei. Jeder spielt ein bis zwei Akkorde, damit sie alle in einen Chorus oder zwei passen. Sie alle spielen auf dem Flügel mit Lichterketten im Hotel Belvedere. Sie fliegen nur so über die Tasten des Flügels im Foyer des Hotels Belvedere in Zakopane. Sie sind die wahren Überflieger, spielen das berühmte Clair de la lune, im Mondlicht, Clair de la lune. Zur Feier des Gipfeltreffens der Überflieger ist der Flügel festlich illuminiert. Sie fliegen nur so über die Tasten.

Chopin nach so vielen Jahren der Abwesenheit endlich wieder im Belvedere. Chopin im Belvedere, mit einigen Kolleginnen im Schlepptau, darunter Mary Lou Williams, Joanne Brackeen, Martha Argerich. Denn er ist ein Salonlöwe. Die drei sind da, im Salon der Löwen und Löwinnen, und auch Irène Schweizer, tatsächlich aus der Schweiz.

Sie improvisieren, sie alle improvisieren über George & Ira Gershwins Klassiker Summertime. Summertime and the livin' is easy, fish are jumpin' and the cotton is high, hush now pretty baby, the livin' is easy, daddy's rich, ma's good lookin', hush now pretty baby, don't you cry.

Sie bringen auch eine Lauenburgische Version (Kreis Herzogtum Lauenburg, der eine Kreis zwischen den Hansestädten Hamburg und Lübeck, nicht zu verwechseln mit Stormarn). Sommerzeit, Leben ist leicht, ja so leicht, Fischtreppe am Kanal noch ganz neu, Raps schon so schön gelb, rapsgelb, schweig fein still, schweig in Ruhe meine Lauenbürgerin, Leben im Sommer, ganz leicht, federleicht, denn Vater hat das Geld, das ganz große Geld, ihm gehören viele Speicher gemietet in der historischen Speicherstadt, Tee, Kaffee, Pfeffer und andere Gewürze, Mutter sieht blendend aus, man dreht sich nach ihr um, ja um. Also bewahr' die Ruhe, meine Lauenbürgerin, fang' jetzt bloß nicht zu flennen an, mitten im Rapsfeld.

Wer hat das gerade gesungen? Keiner der zahlreich anwesenden Pianistinnen und Pianisten. Die fliegen, wie wir wissen, ja nur so über die Tasten, denn sie sind die wahren Überflieger. Aber auf die Barkeeper hier im Hotel Belvedere ist immer Verlass, die können alle großartig singen. Drei an der Zahl, sie haben ganz wunderbare englische Pseudonyme. Da ist Big Tatra Joe, groß ist er, lebt in der Hohen Tatra, Josep ist sein Name. Es folgt Blind Bell Chris, Bell wie Belvedere. Er hat eine extradicke Sonnenbrille auf der Nase, auch er arbeitet im Belvedere, Krzystof nennt man ihn. Der dritte im Bunde ist Slow & Smooth Pete, er singt den Blues, ganz langsam. Die polnische Form seines Namens ist Piotr. Sie singen zu dritt, zu zweit, solo, sie singen nicht. Summertime and the livin' is easy, fish are jumpin' and the cotton is high, hush now pretty baby, don't you cry.

Sommer, es lebt sich so leicht, echt ganz leicht. Die Fischtreppe am Kanal, wie immer gut besucht, reichlich Fische und viel menschliches Publikum. Raps immer noch so schön gelb, rapsgelb, zum Hineinknien schön. Halte den Atem an, meine Lauenbürgerin. Fang jetzt bloß nicht zu plärren an, mitten im Raps. Sommer ist hier, Leben ist extraleicht, superleicht, ganz und gar leicht, immer nur dieses eine Lied, Big Tatra Joe, Blind Bell Chris, Slow & Smooth Pete. Sie singen und spielen auf Englisch, auf Lauenburgisch und irgendwann auch auf Polnisch.

Dazu spielen all die wunderbaren Pianistinnen und Pianisten, die noch im Haus sind, Stunde um Stunde. Sie spielen den Minutenwalzer von Chopin, genau eine Minute lang, denn so steht es in den Noten. Chopin ist im Haus, endlich wieder nach so langer Zeit, der passt auf. Sie improvisieren, auch über: Ein Vogel kommt geflogen, spielerisch und doch voller Energie. Sie fliegen nur so über die Tastatur, denn sie sind die wahren Überflieger. Sie spielen länger, als sie vorher nicht gespielt haben, auf dem Flügel im Belvedere.

© Wolfgang Weber, November 2023.


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2023/10/31


vorschau11


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2023/10/27


Dagmar Sinn
Auschwitz


auschwitz1
Kinderkleidung in Auschwitz.
Foto von © Dagmar Sinn, August 2023.


Ein heißer Augusttag, schon gegen 10 Uhr steht das Thermometer auf 32 Grad. Unsere Reisegruppe ist auf Polenrundreise und aus Krakau hierher gefahren. Wir stehen in einer Schlange zur Gepäck- und Ausweiskontrolle, als wären wir am Flughafen. Wie täglich 10.000 andere Besucher wollen wir die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besuchen, uns informieren über die Gräueltaten der Nazis vor etwas über 80 Jahren. Mit unserem polnischen Reiseleiter und einem lokalen Führer stehen wir vor einem Modell des Vernichtungslagers.

Auschwitz, in einem Vorort der polnischen Stadt Oświęcim gelegen, ist ursprünglich eine von Polen angelegte Kaserne mit Eisenbahnanschluss gewesen, für die Nazis ein geeigneter Standort für Transport und Unterkunft tausender Menschen. Nach dem Überfall auf Polen werden 1939 zunächst polnische Zwangsarbeiter in das Lager deportiert. Es folgen Gefangene aus allen besetzten Ostgebieten, auch Sinti und Roma.

Nach der Wannseekonferenz von 1942, in der man die Deportation und Vernichtung aller europäischen Juden beschließt, werden hierher bis 1945 hunderttausende Juden, am Ende mehr als eine Million Menschen, verschleppt und umgebracht. Schnell wird Auschwitz, genannt Auschwitz I, zu klein für das grauenvolle Vorhaben, denn es gibt zu wenig Platz für Gaskammern und Krematorien. Daher baut man zügig mit Gleisanschluss im nur 3 km entfernten Birkenau modernste Anlagen in großem Stil und mit großer Kapazität, genannt Auschwitz II-Birkenau.

Durch das schon oft fotografierte Tor mit der makaber anmutenden Aufschrift "Arbeit macht frei" gehen wir auf das Gelände, das schachbrettartig angeordnet ist mit Holzbaracken und Ziegelhäusern, mit Wachtürmen und von hohen Stacheldrahtzäunen umgeben. Eine unwirkliche Ruhe liegt über dem Komplex. Nur die Vögel zwitschern.

Man zeigt uns ein Häftlings-Orchesterfoto. Musik ist im Lager das Mittel, eine aktivierende Stimmung herzustellen, die Häftlinge besser durchzählen sprich kontrollieren zu können und Normalität vorzutäuschen. Es gibt Männer- und Mädchenorchester, auch mit Berufsmusikern unter den Gefangenen, für Feste und Aufführungen der SS, gleichzeitig für die Lagerinsassen eine Möglichkeit, kleine Vergünstigungen in Form von besserer Behandlung zu erhalten.

Besser behandelt und besser ernährt werden vor allem gesunde Menschen in so genannten Sonderkommandos. Unter einem Sonderkommando versteht man im Lager Auschwitz vor allem Zwangsarbeit in Gaskammern und Krematorien und alle Tätigkeiten, bei denen sich die Angehörigen der SS nicht die Hände schmutzig machen wollen. Sie und ihre Familien haben ein "Normalleben" mit Familie und Kindern außerhalb des Lagers. Damit es dafür - Kindergarten, Schule, Café, Geschäfte des täglichen Bedarfs - genügend Platz gibt, hat man die Fläche um das Lager vorher kilometerweit räumen lassen.

Kommen die übervollen Züge mit den Menschen an, wird noch am Bahnhof von einem Militärarzt selektiert. Die "Untersuchung" beschränkt sich auf Daumen nach oben oder unten, was Leben oder Tod bedeutet. Gepäckstücke werden sofort konfisziert, nur zur Kontrolle, man erhält sie angeblich zurück, offiziell ist man schließlich zur Lagerarbeit hier. Nur kräftige gesunde Juden haben eine Chance. Alte Menschen und Kinder unter 120 cm Größe kommen umgehend unbekleidet in "Sammelduschen", wo sie mit Blausäuregas aus dem Präparat Zyklon B getötet werden. An Frauen im gebärfähigen Alter werden medizinische Experimente, oft zur Sterilisation, durchgeführt. Wenn sie arbeitstauglich sind, werden ihnen die Haare abgeschnitten. Als Mensch wird man eine Nummer, die bei Erwachsenen in einer schmerzvollen Prozedur in den linken Unterarm, bei Kindern meist in den Oberschenkel tätowiert wird. Penible Listen werden geführt, daher wissen wir, dass während der Lagerzeit in Auschwitz etwa 600 Kinder geboren werden, von denen 46 überleben. Ein Wunder, wenn man an die unmenschlich engen Schlafbaracken und die schlechte Ernährung denkt. Auf den engen Etagenpritschen, die wir sehen, muss man zu zweit liegen. Zu essen gibt es Brot mit Margarine, ab und zu etwas minderwertige Wurst und Quark, auch Marmelade, an warmem Essen dünne Suppen, Kartoffeln, Steckrüben und Kohl. Ab und zu darf man pro forma kurze Briefe schreiben, die aber streng zensiert werden, damit nur "normale Zeilen" die Außenwelt erreichen - für uns im digitalen Zeitalter heute unvorstellbar. Diese damals ausgefeilten Kontrollen verhindern fast komplett wirklichkeitsnahe Informationen. Mit dem Fortschreiten des Krieges leiden alle Menschen Mangel und sind damit beschäftigt, so gut es geht zu überleben.

Gefoltert wird im Lager, wer eine Spur von Ungehorsam zeigt, uns wird eine Stehzelle gezeigt, auf der auf einen Quadratmeter bis zu 8 Menschen tagelang ohne Essen und Getränke stehen müssen, umkippen können sie nicht. Betreten stehen wir vor einer Mauer, an der spontane Erschießungen stattgefunden haben, und fragen uns, wie viele Menschen dort sinnlos ihr Leben lassen mussten.

Die Schaukästen in Auschwitz sprechen ihre eigene Sprache. Außer Gold, das den Toten als Zahngold und Schmuck zum Einschmelzen sofort abgenommen wird, ist alles ausgestellt: Gepäckstücke mit Namen und Nummern, Kleidung, auch Sträflingsanzüge, Porzellan für den täglichen Gebrauch, Schuhe, Prothesen, Krücken und Gehstöcke, Brillen und tonnenweise Haare, die wir als einziges nicht fotografieren dürfen. Dunkle, helle, graue Haare, dicke blonde Zöpfe, offenbar nicht arisch genug. Beim Anblick von Kinderkleidung muß ich schlucken - eine kleine Schürze mit herzförmigen Taschen, ein kleiner selbst gestrickter Pullover - so jung und nur so kurz gelebt.

In den Schaukästen liegen auch meterdick leere Zyklon B-Dosen, die Blausäuregas aus Pellets frei gegeben haben. Nach vorhandenen Unterlagen werden allein 1943 12.000 Kilo nach Auschwitz geliefert. Nur 70 mg genügen, um bei einem Erwachsenen zum Tod durch Ersticken zu führen. Wieder draußen, stehen wir vor dem Galgen, an dem der Lagerkommandant Rudolf Höß 1947 als Kriegsverbrecher hingerichtet wird.

Wir fahren weiter nach Birkenau. Von den Krematorien steht nichts mehr, die Nazis haben vor dem Eintreffen der Alliierten 1945 in Windeseile versucht, die Vergasungs- und Verbrennungseinrichtungen zu zerstören. Man hat aber zufällig einen hinterlassenen Fotoapparat mit wertvollem Bildmaterial gefunden. Erhalten sind noch mehrere Reihen dünnwandige Holzbaracken, durch die es Sommer wie Winter ständig zieht, wir finden eine Hütte mit leeren Bettgestellen als Wohnraum. Ein altes Foto zeigt, wie chaotisch sie bewohnt ausgesehen hat. Schlimm sind die hygienischen Zustände. In ehemaligen Pferdeställen, zu erkennen an den Wandringen für Halfter, stehen mittig einfache Latrinen, die laufend manuell ausgeleert werden müssen, eine Baracke für über tausend Menschen. Auch Duschen sollen darin gewesen sein.

Wir gehen ins Freie. 80 Jahre sind eine lange Zeit. Es ist immer noch ein heller Sommertag. Auch hier sind Familien mit Kindern unterwegs. In Polen sind Sommerferien. Ich habe eine Gedenkstätte und kein touristisches Highlight besucht. Wir alle werden diesen Tag nicht vergessen.

© Dagmar Sinn, Oktober 2023.

auschwitz2
Mädchen mit geschorenem Kopf in Auschwitz.
Foto von © Dagmar Sinn, August 2023.


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2023/10/24


IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK

DIE BEATNIKS, TEIL 2
DIE SIMULATION IN DER SIMULATION
WILLIAM S. BURROUGHS' BEITRAG ZUR EXPERIMENTELLEN SPRACHGESCHICHTE


beathotel


Paris 1958 Beat-Hotel, der ideale Playground für Beatniks, daher wohl auch der Name, es ist zentral gelegen, billig und die Hotelleitung ist mehr als laissez-faire, hat sie doch gern Künstler um sich und schmückt sich damit. Bei Wikipedia (im Artikel Beat Hotel) ist zu lesen:

"Allen Ginsberg und Peter Orlovsky waren die ersten Literaten, die sich 1957 hier einquartierten, gefolgt von William S. Burroughs, der hier mit Hilfe von Brion Gysin den Text zu »Naked Lunch« beendet haben soll und lebenslange Freundschaft mit Gysin schloss. Gysin erfand dazu die "Cut-up-Technik", die Burroughs in dem Werk verwendete. Im Gefolge von Burroughs und Gysin befand sich außerdem der Mathematikstudent, Bastler und Programmierer Ian Sommerville, der gemeinsam mit den beiden die "Dreamachine" erfand und Burroughs' rechte Hand und Geliebter in den 1960ern wurde. Des Weiteren folgten Sinclair Beiles, Gregory Corso, Jack Kerouac und Harold Norse. Norse schrieb hier 1960 den Roman »Beat Hotel«, in dem er ebenfalls Gysins Cut-up-Technik verwendete. Ginsberg verfasste im Beat Hotel große Teile seines Gedichtes »Kaddish« (1958) und Corso schrieb die Verse zu seinem Gedicht »Bomb«, das sich mit der Atombombe auseinandersetzt."

Programmatisch und wohl kein Zufall, dass sie sich hier trafen.
Brion Gysin, ein ebenbürtiger Künstler (ebenfalls aus den Staaten, Maler und experimenteller Autor), schon gut vernetzt mit den Pariser Surrealisten, bringt diese Einflüsse (Écriture automatique, Arbeit mit Unterbewusstem, Traum, Rausch etc.) ein. Gemeinsam entwickeln beide eine eigene Écriture, basierend auf hohen alchemistischen Dosen konzentriert ablaufender Trancezustände - und es wird natürlich kräftig nachgeholfen. Mit Meskalin und Haschisch, arabischem Sufi-Trancesound, Stroboskopeffekten, die später zur Dreammachine avancieren.
In dieser forcierten psychischen Trance kommt es zu Erfindung (B. Gysin) und Anwendung der Cut-ups durch beide Künstler. Auch der berühmte Roman »Naked Lunch« von WSB wird hier zu Ende geschrieben.

Die Poetik der Beatniks umfasst im allgemeinen folgende Tools:
Cut-up, Fold in, Sampling, Dream Machine, Stimulantien wie: Hypnose, Rausch, Drogen, Ritualistik, Sounds, Sex, Simulation einer eigenen Realität, die die Simulation in der Simulation zeigen und spürbar machen sollen. (1)

Werke wie »Naked Lunch«, die noch ein Narrativ hatten (sonst hätte es auch kaum so prominent verfilmt werden können), einen aber ob der surreal-fiktiven Handlung eher verwirrt, sogar verstört zurücklassen, was erwünscht ist. Der deliriöse Rahmen und der Rausch als Grundlage seiner Wirklichkeitswahrnehmung wird nicht verheimlicht, sondern thematisiert. In »The Wild Boys« benutzt WSB erstmals die Methode des Cut-up, die später perfektioniert wird, u.a. in Cut-up-Filmen.

Sprache als Virus - "language is a virus from outer space"

Wie kann er nun dem epistemologischen Gefängnis entkommen, als das er die Sprache sieht?

Unter diesen Vorzeichen ist der Sprache und allem, was sie hervorbringt (z.B. das Denken) nicht zu trauen und man muss sie umgehen bzw. austricksen. Deshalb sind für WSB z.B. magische Praktiken interessant, als die er auch das Schreiben selber ansieht. (2)

Durch die Technik des Cut-up werden Texte zerstückelt und wieder neu zusammengesetzt. Die Ergebnisse erinnern an die ganz eigenständige Realität des Traums und des Rausches. Es wird eine innere Realität gespiegelt, die ihr völliges Eigenleben entwickelt, da sie Überraschungen durch neue Kontexte mit einbezieht. So wird eine Realität simuliert, die nur innen existieren kann, ein eigener Code wird entwickelt bzw. simuliert als ideales Gegenmodell zur aufoktroyierten Wirklichkeit, der sie damit entkommen.

Damit nämlich, dass man sich derart über das Sprachgefängnis außen und innen, die Norm, hinwegsetzen kann, und sie erlauben sich diese Freiheit. Warum eigentlich ?! Weil sie es konnten und ihnen ein intrinsischer Trieb dies eingab.
Und das Ergebnis befreit einen, z.B. vom Amerikanischen (Alb)Traum.

Die Perversion kann sichtbar gemacht werden; aus Wilhelm Tell wurde ein eiskalter, kopfloser Killer, out of mind.
Gegenkultur: ja, aber dann gleich richtig, auch gegen sich selbst und die eigene Existenz. Radikalität hat ihren Preis, den die Künstler allesamt zahlen. (3)
Ein Kontinuum aus toxischem Leben, Morast, Ekel, Schatten und Süchten wird dafür in Kauf genommen, um eben dem etwas entgegen zu setzen. Homosexualität, Anders sein, Alienation, Insekten als Metaphern einer Invasion aus einer fremden Welt, die Themen übernehmen einen förmlich, dringen selber in uns ein.
Wie ein Virus vielleicht ?!

Im Teil 3 werde ich näher auf die Idee der Sprache als ein Virus eingehen und woher diese kommt.

Fußnoten

(1) Die Logik dahinter, falls es eine gibt, ist die: niedere Ebenen werden nur deshalb betreten, um daraus wieder empor zu steigen, reicher an Wissen und womöglich Weisheit. Dafür war aber die Zerstörung der Mittel, wie schon vormals Dada u.a. erkannt hatten, Voraussetzung, dadurch nur generierte sich eine unglaubliche Freiheit (Rauscherlebnisse öffneten den Mind).

(2) Er versteht sich durchaus als Magier der Sprache und stellt sich auch so dar. Eine Art Zirkusdirektor und enfant terrible gleichzeitig, Manege frei für wildeste Phantasien und Spektakel. Spiel, Tragik und Komik sehr nah beieinander. Harry Haller lässt grüßen.

(3) »Junkie«, einer seiner ersten Romane, beschreibt diesen Lifestyle und ist als Einführung in die Materie sehr lesenswert.

© Dr. Karin Krautschick, Oktober 2023.


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2023/10/21


IM KOPF DER SPRACHE
BERICHTE AUS DER SPRACHWERKSTATT VON DR. KARIN KRAUTSCHICK

WS BURROUGHS UND DIE BEATNIKS, TEIL 1
EIN NEUER BEAT UND DESSEN WÜRDIGER APOSTEL


wsburroughs


Über William Seward Burroughs (geb. 5.2.1914 in St. Louis, Missouri - gest. 2.8.1997 in Lawrence, Kansas), aufgewachsen in einer Vorkriegszeit, ließe sich sehr viel berichten, doch hier konzentriere ich mich auf dessen Innovationen im Bereich des Experimentellen.
Wer kennt sie nicht, die Beatniks: Vorreiter/Wegbereiter der Hippie - später Punkbewegung, Avantgarde ihrer Zeit, der 50/60er - als Team/Kollektiv unterwegs und immer offen für Kollaborationen und Experimente aller Art, was für genuine künstlerische Produktion natürlich ein Glücksfall ist.
Zusammen mit Künstlern wie Brion Gysin erschuf er seinen eigenen Kanon an Mitteln, von dem wir Autoren und Künstler heute noch zehren: CUT UP, FOLD IN, SAMPLING, EXPERIMENTALFILME, DREAMMACHINE - postmodern werden anarchistische Ideen und Ansätze in Szene gesetzt.
Eine intensive Dichterfreundschaft und Kollaboration verbanden ihn mit Allen Ginsberg, John Giorno, Jack Kerouac. Sogar Punksängerin Patti Smith sowie Psychic-TV-Frontmann Genesis P-Orridge, die Band Sonic Youth, um nur einige zu nennen, schätzen ihn bis hin zu Verehrung.
WSB gilt als ikonischer Übervater dieser neuen Counterculture. Mit seiner schrägen, skurrilen, gleichzeitig reflektierten lakonischen Art stellt er alles in Frage.
Was hat der Kapitalismus aus den/m Menschen gemacht ?, schwingt immanent immer mit.

Dieser Dystopie, die ja real geworden ist, setzt WSB sein Menschenbild entgegen: das des Junkies, des Outlaws und Gegen-den-Strom-Schwimmenden. (1)
Damit erschuf er einen neuen Künstlertypus und Habitus mit dessen H A B I T A T, ein ebenso romantisch wie intellektuell angehauchtes Künstlerimage (später trat er auch in vielen Undergroundclubs in NY auf), eine Art Ghostpriest, Prophet, der seine Ideen verstreute wie einen Samen, der in den Jugendbewegungen der 60er fruchtete, vergleichbar mit den 20er Jahren in Paris.

Um solch einen Bruch mit der Tradition zu veranstalten und zu zelebrieren, ist erstmal die Erschaffung eines Gegenmilieus notwendig.

Dieses konnte gelingen durch seine selbst verordnete Expatriierung. Mexiko, Tanger, London, Paris - viele Jahre blieb er den Staaten fern und konnte sich so als Künstler und auch als Amerikaner neu verorten.
Mit diesem Abstand und der dadurch veränderten Perspektive initiierte er nach einer Megakrise (2) seine eigene Wiedergeburt "and gave up the idea of ever fitting in".

Ein von ihm selbst halb abgehackter kleiner Finger (3) zeigt seine Opferbereitschaft hin zu einem manifestierten Anderssein, aber auch den immanenten Wahnsinn eines solchen Projektes.

Schon früh, caught up / cut up in seiner eigenen Welt, erschafft er sich in seiner Kunst neu.

Diese Infragestellung aller Werte bzw. deren Umwertung (Nietzsche lässt grüßen) betrifft natürlich auch den damaligen eher bürgerlichen Kunstkanon.
Mit entsprechenden stimulativen Mitteln - ganz im Sinne der romantischen Tradition (Absinth, Haschisch u.a.) und im Sinne bzw. Unsinne von Dada: antibürgerlich, antikünstlerisch, antiintellektuell) - wird ein Gegengift gebraut und sich Eintritt verschafft in eine Welt des Anderen, eine Anderswelt. (4)

Seine Expeditionen in die Anthroposophie, seine Suche nach Yagé (Ayahuasca), Mindcontroltechniken lernte er als Scientologe, bis er dort rausgeworfen wurde (Infragesteller sind dort wohl nicht so beliebt), haben ihn auch tief derangiert. Er konnte sich selbst nicht belügen.

Zurück zu Allen Ginsberg nach New York berichtet er ihm, gemeinsam geben sie ein Buch heraus.
Jeder s/ein eigenes Universum, mit seinen je eigenen Erfahrungen.
Am Anfang und Ende steht: dem Westen/der westlichen Welt ist nicht zu trauen.
In der Verunsicherung des eigenen Seins findet er eventuell einen Ausweg. Kein Happy End !!!!!

Underground Magazines der 60s, Alternative Szene etc. sollen die Alienation zeigen !!!!!
Seine Themen modifizieren das Kunstmodell und wollen das auch. Neues wird in den Kunstkanon eingebracht, ohne danach zu streben. Was funktionierte, wird organisch weiterentwickelt. Manifestationen eines Zeitgeistes z. B. Andy Warhol, Jackson Pollock - ein Aufbrechen der Konventionen hin zur Öffnung, auch für neue Kunst-Sujets, z.B. den banalen Alltag - Campbell-Suppenwerbung oder Chaos- und Zufalls-Strukturen zielen auf authentisches Festhalten bzw. Fließenlassen eines Lebensstromes, Authentizität der Erfahrung, deswegen Rauschsuche, ans Limit gehen.

Allen Ginsbergs »Howl« versinnbildlicht dieses an die Grenzen gehen, auch in der Sprache und Poesie. Die Suche nach neuen zeitgemäßen Ausdrucksformen, die einer Wirklichkeit gerecht werden, die immer weniger zu fassen war mit all ihren Widersprüchen und Paroxysmen.

Gedankenformen, Images, Spiel mit Realitäten finden hier Eingang, ebenso die Thematisierung von Homosexualität, Drogengebrauch, Aufklärung über Sekten etc.
Welches Gepäck bringen diese Künstler mit ?
WSB kommt aus einem reichen konservativen Elternhaus, Andere hatten nicht dieses Glück.
Kamen zum Teil von der Straße.
Der Vietnamkrieg später reißt das Ruder herum - Punk- und Hippie-Bewegung, Singer Songwriter öffnen den Diskurs für alles, was das Leben interessant und rätselhaft macht. Grenzgängerei, Schamanistische Rituale, destruktive Rituale nicht ausgeschlossen, auch Chaos und Tod nicht.

Fußnoten:

(1) Französ. Symbolismus (Baudelaire) - verrückte Liaisons (Rimbaud, Verlaine), Drogen etc., siehe dazu auch Hans Mayer: "Außenseiter"; viele existentielle Erfahrungen sind hier schon gemacht worden, z.B. die der persönlichen Hölle (Oscar Wilde). Die Stories der Beatniks sind natürlich viel wilder.

(2) Die "Wilhelm-Tell-Nummer", so ging es in die Geschichte ein und veränderte WSB's Leben für immer.
Durch einen provozierten Unfall tötete er seine ebenso wie er alkoholabhängige und volltrunkene Frau Joan Vollmer bei einer Schießübung, bei der er in Wilhelm-Tell-Manier anstelle eines Apfels ein Glas Gin von ihrem Kopf schießen wollte und sie aus Versehen tödlich traf.

(3) Absichtlich trennte er sich von seinem kleinen Finger bzw. einem Teil davon. Man könnte das als ritualistische Selbstopferung ansehen. Es war ihm also ernst mit seinen magischen Praktiken.

(4) Thomas de Quincey, Edgar Allan Poe, Baudelaire, Rimbaud - viele waren auch Junkies, z.T. verwirrt, Vorboten einer neuen Zeit; sie erkunden als Erste das Gebiet des Bewusstseins und gehen an die Grenzen des Sag- und Zumutbaren. Eine quasi zärtliche Chaosforschung.

© Dr. Karin Krautschick, Oktober 2023.


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2023/10/17


Reinhild Paarmann
Auf den Spuren von Thomas Müntzer


schlachtberg
Schlachtberg bei Bad Frankenhausen mit Panoramamuseum.
Foto von H. Stolze. Quelle: Wikimedia Commons.


Wir hatten schon seit langem den Wunsch, das Panorama-Museum in Bad Frankenhausen mit dem großen Panorama-Wandgemälde von Werner Tübke über den Bauernkrieg mit der letzten Schlacht in Frankenhausen unter Führung von Thomas Müntzer am 15. Mai 1525 zu besuchen und zugleich uns auf einige Spuren von Müntzer zu begeben.

Wir sind am Schlachtberg angekommen, hoch über Frankenhausen, wo das Panorama-Museum auf historischem Boden steht, ein Rotundenbau mit dem Panorama-Wandgemälde von Werner Tübke über die dramatischen Ereignisse und Umwälzungen der Zeit, insbesondere der gescheiterte Aufstand der Bauern von Frankenhausen vom 15. Mai 1525 unter Führung von Thomas Müntzer, die letzte Entscheidungsschlacht, zentral herausgehoben unter dem Regenbogen der Hoffnung. 6.000 Bauern wurden von den Fürsten niedergemetzelt. Die Fürstlichen hielten die vereinbarte Waffenruhe nicht ein. Eine Straße, wo wir vorbeifahren, heißt noch Blutrinne.

Ich lese: Am 4. Mai 1525: Söldner des Grafen Ernst von Mansfeld stecken Ringsleben in Brand. Aufständische unternehmen wieder Züge gegen benachbarte Städte, Klöster und Schlösser.

10. Mai: Müntzer mit 300 Mann auf dem Weg von Mühlhausen nach Frankenhausen, das er einen Tag später erreichte. 14. Mai: Müntzer nimmt mit seinen Anhängern hinter einer Wagenburg gegen das hessisch-braunschweigische Heer Stellung. Landgraf Phillip verlangt die Auslieferung des Theologen und Anführers Müntzer, die Bauern verweigern diese. Die Aufständischen haben nicht die Feuerwaffen wie die Fürsten-Landsknechte. Müntzer predigt, Gott stehe auf der Seite der Armen und Unterdrückten. Ihr Kampf sei gerecht. Sie tragen die Regenbogenfahne. Ein Regenbogen erscheint am Himmel. Müntzer deutet dies als Zeichen Gottes, dass sie ihre 14 Forderungen durchsetzen können.

Aber sie werden überraschend angegriffen, fliehen. 6.000 Rebellen werden abgeschlachtet, 600 gefangen genommen. Am 16. Mai werden 300 Bauern hingerichtet. Thomas Müntzer, der bei einem Unterstützer unterschlüpfen konnte, wird von einem, der auf das Lösegeld scharf ist, verraten. Durch die Schriften in Müntzers Tasche wird er identifiziert.

In Ernst von Mansfelds Wasserschloss Heldrungen wird Müntzer drei Tage gefoltert, am 27. Mai 1525 in Mühlhausen der Kopf abgeschlagen und auf einen Spieß gesteckt. "Ich meine, dass kein Teufel mehr in der Hölle sei, sondern sie sind allzumal in die Bauern gefahren", sagte Luther 1525, als der Bauernkrieg in Thüringen begann.

Verhalten-zögernd: Konzert für Klavier und Orchester d-moll, Bach. Wie die Haltung Luthers zu den Bauern, bis er sich gegen ihre Forderungen vehement absetzte.

Luther war gegen Gewalt und rief 1525 zum Kampf gegen die Aufständischen auf: "Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern". Fand aber die Erziehung seiner Eltern in Ordnung. Seine Mutter schlug ihn wegen einer Nuss blutig. Nicht nur Bauern, arme Leute, Bergarbeiter, verarmte Adlige kamen im Aufstand zusammen.

Anfangs bewunderte Müntzer den Reformator Martin Luther. 1516 entzündete Tetzel einen Scheiterhaufen, um den Menschen klar zu machen, was sie erwartet, wenn sie keinen Ablass kaufen. Müntzer hielt dagegen eine feurige Predigt. Noch 1519 setzte sich Luther für Müntzer ein, damit er seine Stelle weiter behalten konnte.

Aber an der Gewaltfrage trennten sich ihre Wege. Soll die Reformation mit den Fürsten oder gegen sie durchgesetzt werden. Müntzer wusste, dass die gerechten Forderungen der Bauern nicht mit friedlichen Mitteln zu erreichen waren. Er soldarisierte sich mit den Bauern, die unter massiven Missständen seit 1513 litten. Die Bauern verschuldeten sich, wurden dadurch Leibeigene. Durch die Erwartung auf die nahe Endzeit meinte Müntzer sich opfern zu müssen. Der Mansfelder Graf sollte entmachtet werden.

Luther bezeichnete Müntzer als vom Leibhaftigen besessen. Thomas Müntzer legt die Bibel revolutionär aus: "Es steht geschrieben, dass die Gewalt soll gegeben dem gemeinen Volk", in seiner "Fürstenpredigt" räumt er auf damit, dass der Mensch in einer gottgegebenen Ordnung lebe, sich dieser bedingungslos zu unterwerfen habe und spricht von Selbstbestimmung und Widerstandsrecht, gegen Unrecht und Unterdrückung aufzustehen. Im Gegensatz zu Luther, der das Heil im Jenseits sieht und die bestehende Ordnung der Fürsten als gottgegeben rechtfertigt. Der Erfolg der Reformation lag in ihrer Hand.

Die Schlaghämmer klopfen im Bergstollen, liegend bergen die Männer das Kupfer und Silber. Eine kleine Lampe blinzelt. Der Staub, der Krach, die Kälte in der Schmelzhütte. Mir fallen die Silberbergwerke in Potosí ein. Kinderarbeit. Coca-Blätter kauend.

Fughetta c-moll, Bach. Es scheppert wie Glocken. Die Glocke am "Schiefen Turm" in Bad Frankenhausen schlägt zur Stunde.

Die Unruhen unter den Bauern begannen lange vor Müntzer. Die Adligen untersagten ihnen plötzlich das Weiderecht auf der Gemeindewiese, das Jagen im Wald und die Holznutzung. Die Steuern wurden erhöht. Es gab nicht nur den Zehnten, sondern auch noch eine kleinere Steuer auf das Vieh und den Wein. Dazu mussten die Bauern Fron- und Stelldienste leisten. Die Bauern forderten, die Gerichtsverlagerung zurückzunehmen, so dass der Rat der Stadt wieder richtet.

Wir fahren am Abend nochmals zum Panorama-Museum. Werner Tübke malte hier die Bauernkriege im Zusammenhang mit der biblischen Menschengeschichte. "11 Jahre Qual" sagte er, als er endlich mit dem größten Bild der Welt fertig war. Er hatte zwar anfangs einige Helfer, die es aber, bis auf einen, mit der Zeit aufgaben. Fiktionale Erscheinungen wie die Seifenblase, der Fisch auf dem Baum, unter dem eine Blase hängt, wechseln mit realistischen Darstellungen. Auch Müntzer, von dem kein Bild aus seiner Lebenszeit bekannt ist, findet sich auf dem Panorama. Die Regenbogen-Fahne, als Erinnerung des Bundes Gottes mit Noah und die Entsprechung am Himmel. Er sagte zu den Bauern: "Dran, solange die Feuer heiß sind. Lasset eure Schwerter nicht kalt werden!" Ein Schiff liegt auf dem Trockenen, ein Symbol für die Hoffnungen?

Kurz vor der politischen Wende 1989 und dem folgenden Untergang der DDR wurde das Gemälde fertig gestellt. Das Panorama-Rondell soll zeigen, dass die Jahreszeiten immer weiter gehen, sich die Geschichte wiederholt. Der Turm zu Babel als Symbol der Widersprüche in der Winterlandschaft. Der Brunnen mit den Granatäpfeln als Zeichen der Verjüngung, da schart sich der Adel herum. Wolkengebilde, eins mit Auge, eins, als ob eine Raupe herausdringt.

© Reinhild Paarmann, Oktober 2023.


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2023/10/13


wolfgang weber
schreib' dein' text


schreibdeintext


a: schreib' dein' text

schreib' dein' text, es ist wie verhext, du bist stets in irgend einem kontext, schreib' dein' text, schreib' dein' text, écrit ton texte, j'aime les textes directes, pas perfectes, schreib' dein' text, du bist relaxt und die ander'n sind perplex-t vom subtext, ja schreib' dein' text
schreib's auf, schreib's auf, bleib gut drauf, schicksal nimmt sein' lauf, schreib's auf, schreib's auf, die ander'n kriegen schluckauf, schreib's auf, schreib's auf, glück auf beim nudelauflauf, kreislauf kreislauf, schreib's auf, schreib's auf

mach's wie der rasende reporter egon erwin kisch, wisch und weg, frisch und weg, ganz frisch auf'n tisch, zisch und zweck, sei exzentrisch und konzentrisch, nimm und gib kein bakshish, nimmer, niemals, auf gar keinen fall, handle prophylaktisch und didaktisch, sei vorausschauend galaktisch, dialektisch und egozentrisch, mach's wie kisch egon, kisch erwin, leg' dein' text auf'n tisch, frisch und weg, mit mäusen fängst du speck, das ist der gag am text, ja, es ist wie verhext, du bist ständig in einem kontext

mach' was draus, schau' nicht so kraus im affenhaus, speise außer haus, ei der daus, altes haus, lies mickey mouse, worauf willste hinaus, frag CF, Carl Friedrich Gaus, applaus applaus in saus und braus für nikolaus, den alten zaus-el

the mighty wolf, mein pseudonym, wenn ich mal eins brauch, mighty wolf in da house, music and tunes in da house, lyrics and stories in da house, people and wolf in da house, wolf for da people


b: schreibmaschinenstrasse

dem dichter träumte eines morgens, fast mitten in der nacht, er wohne jetzt in der schreibmaschinenstrasse, aber gar nicht umgezogen, mit solchen namen wie:
gabrielen / henrietten / monica / erica / julianen / mercedes elektra / strasse /
brother / remington / ibm / continental / crown / victoria / street /
olivetti / voss / triumph / olympia / adler / optima / aeg / strasse

schreibmaschinen, betrieben von hand, ja, gibt es sie noch, man sieht sie nicht, schreiben mit drucktypen auf papier, mit anschlag, mit tastatur, qwertz auf deutsch, qwerty auf englisch, manche dichter: grass, lenz, böll, arno schmidt, schrieben lange, schrieben treu, zu hause, im hotel, unterwegs mit reiseschreibmaschinen, schreibmaschinenschreibende dichter, vielleicht heute noch

jeder roman hat in der regel mehrere kapitel, ein ganz besonderes war das einlegen der farbbänder, kompliziert, kompliziert, viele beschmierten sich regelmäßig, mit farbe schwarz, mit farbe rot, typenhebelschreibmaschinen, wagenhebel, wagenrücklauf, walze, zeilenvorschub, kugelkopf- und elektrische schreibmaschinen, tabulatoren, tippex, typenradschreibmaschinen, thermoschreibmaschinen, schreibmaschinenstrasse, street of typewriters


c: schreib' dein' text reprise

schreib' dein' text, schreib' dein' text, es ist wie verhext, alle sind perplex-t, du bist voll relaxt, schreib's auf, bleib gut drauf, schreib's auf, schreib's auf, glück auf beim kartoffelauflauf, schreib's auf, schreib's auf, verschnauf am möbelknauf, schreib's auf, mach's wie egon erwin kisch, frisch auf'n tisch, zisch und weg, mach's wie kisch egon, kisch erwin, egon erwin kisch, frisch und weg, wisch und weg, leg‘ dein' text auf'n tisch, denk' an kisch

mach was draus im giraffenhaus, worauf willste hinaus, applaus applaus, deine leber nimmt reissaus vor der laus, einst lebtest du in saus und braus, nun haste angst vor 'ner maus, gönn' dir mal 'ne paus' vor dem großen schmaus, mach' was draus, ja mach' was draus

mighty wolf immer noch in da house, schreib' dein' text, schreib' dein' text, alle sind perplex-t von kontext, subtext, volltext, fliesstext, quelltext und urtext, ja, wolf still in da house, der hat die leute verhext, people in da house, schreib' dein' text, wann, wenn nicht jetz-x-t, schreib's auf, wann, wenn nicht jetz-x-t

© wolfgang weber, oktober 2023.


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2023/10/10


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Ein Ginkgo im Oktober in Berlin. Foto von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/10/06


Tagebuch 1973, Teil 69: Kuala Lumpur

von Dr. Christian G. Pätzold


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Fan Yew Teng. Quelle: Internet.


20. Dezember 1973, Kuala Lumpur, Donnerstag

Morgens habe ich etwas Geld in einer europäischen Bank gewechselt. Dann sind wir zum Büro des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) in Kuala Lumpur gegangen, der sich hier German Volunteer Service nannte. Der DED war die Entwicklungshilfeorganisation der Bundesregierung der BRD. Die Mitarbeiter:innen des DED im Ausland waren im Allgemeinen junge, freundliche, sozial eingestellte Leute, die den armen Menschen in der Dritten Welt helfen wollten. So war es auch mit Frau Breier vom DED in Kuala Lumpur. Sie war sehr hilfsbereit und arrangierte für uns ein Treffen mit einem Member of Parliament.

So kam es, dass wir wenig später im Parlament von Malaysia in der VIP-Loge saßen. Das Ambiente war sehr konservativ eingerichtet, obwohl es ein modernes Gebäude war. Der Parlamentsabgeordnete Fan Yew Teng, der mit uns sprach, war von der Democratic Action Party (DAP) und erzählte uns etwas über die Programmatik der Partei. Die DAP war eine 1965 gegründete sozialdemokratische Partei und Mitglied der Sozialistischen Internationale. In ihr waren viele chinesischstämmige Malaysier organisiert. Die DAP hatte aktuell 9 Sitze im Parlament. Er sagte, dass nicht die ethnische Besitzverteilung von Malaien, Chinesen und Indern in Malaysia wichtig sei, sondern die Eigentumsverteilung zwischen inländischem und ausländischem Kapital. Die DAP sei gegen die feudalen Überreste wie die Sultane und die Monarchie, aber nicht radikal. Die Gespräche mit Politikern in Asien waren im Allgemeinen sehr interessant, weil sie natürlich einen ganz anderen Blickwinkel auf die internationalen Beziehungen hatten als das von einem deutschen Standpunkt aus möglich war.


21. Dezember 1973, Kuala Lumpur, Freitag

Mit Frau Breier vom DED haben wir die bekannten Batu Caves besucht, die etwa 15 Kilometer nördlich von Kuala Lumpur lagen. Es waren große Höhlen in einem Kalksteingebirge, in denen sich Hindu-Tempel befanden. Zur größten Höhle führten 272 steile Treppenstufen hinauf, das war schon eine sportliche Leistung. Jährlich fand dort im Januar/Februar das beeindruckende Thaipusam-Fest statt, bei dem sich hinduistische Asketen Eisenstangen durch die Zungen und die Haut stachen. Das war ein Phänomen, das man wahrscheinlich psychoanalytisch untersuchen müsste.

Anschließend sind wir zur Universität (Universiti Malaya) gefahren und haben mit Vertretern der Studentengewerkschaft gesprochen, deren Adresse wir hatten. Sie haben uns etwas über malaysische Geschichte erzählt und die politische Situation der Region erläutert.

Abends waren wir mit dem MP Fan Yew Teng (1942-2010) von der Democratic Action Party (DAP) verabredet. Wir haben mit ihm und Freunden zusammen gegessen. Er war MP der Constituency Kampar (Wahlkreis südlich von Ipoh), 31 Jahre alt, Lehrer von Beruf (er hatte in Birmingham/England in den 1960er Jahren studiert), Gewerkschaftsführer der Lehrergewerkschaft, außerdem Herausgeber der Parteizeitung "The Rocket", Org.-Sekretär der DAP und Internationaler Sekretär. Er war bekannt als feuriger Redner. Später in den 1980er Jahren schrieb er zahlreiche Bücher über politische und soziale Fragen, von denen manche von der Zensur verboten wurden. Er starb 2010 in Bangkok/Thailand an Krebs. (In der englischsprachigen Wikipedia kann man noch mehr über das Leben und Wirken von Fan Yew Teng erfahren).


22. Dezember 1973, Kuala Lumpur - Ipoh, Sonnabend

Die Bekanntschaft mit Fan Yew Teng war für uns ein Glücksfall, denn er war sehr freundlich und hat uns in seinem Auto, einem Mercedes, der offensichtlich ein Statussymbol war, mit zu sich nach Hause in Ipoh genommen. In Kampar, seinem Wahlkreis, haben wir einen Zwischenstopp eingelegt und er hat mit ein paar Leuten gesprochen. Anscheinend wurde oft nach Hilfe bei Staatsbürgerschaftsgesuchen gefragt.

Anschließend waren wir in dem benachbarten malayischen Dorf Kampong, in dem es keine Elektrizität, kein Telefon und auch kein gefiltertes Wasser gab. Die Häuser standen auf Pfählen, wahrscheinlich als Schutz vor Überschwemmungen, oder vielleicht als Schutz vor giftigen Schlangen. In den Häusern gab es oben einen Gemeinschafts- und Speiseraum, außerdem 1 bis 2 Schlafräume. Die Toilette befand sich außerhalb der Häuser. Die Bewohner haben uns etwas zum Essen angeboten. Fan Yew Teng hat sich mit ein paar Repräsentanten des Dorfes unterhalten.

Danach sind wir zum Elternhaus von Fan Yew Teng in Ipoh gefahren und haben dort ein Zimmer zum Übernachten bekommen. Abends sind wir zu einer Rally in einem Außenbezirk von Ipoh gefahren. Die Hauptthemen der Kundgebung waren die mangelnde Landverteilung an Landlose und die Bevorzugung der Reichen. Außerdem ging es um die Inflation und zwar besonders um die aktuelle Erhöhung der Benzinpreise, obwohl in Malaysia reichlich Erdöl gefördert und ein Benzinüberschuss produziert wurde. Die Reden bei der Veranstaltung waren bunt durcheinander in den Sprachen Malai, Cantonese, Englisch und Tamil, die alle von den Anwesenden anscheinend mehr oder weniger verstanden wurden. Fan Yew Teng sagte, die Verstaatlichungen sollten langsam und erst nach einer Profitabilitätsprüfung gemacht werden.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2023.


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2023/10/02


Tagebuch 1973, Teil 68: Malakka

von Dr. Christian G. Pätzold


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Kautschukgewinnung. Quelle: Wikimedia Commons.


"There was nowhere to go but everywhere, so just keep on rolling under the stars."
Jack Kerouac, On the Road: The Original Scroll.


17. Dezember 1973, Singapur - Malakka, Montag

Wir sind mit dem Expressbus die etwa 200 Kilometer von Singapur nach Malakka in Malaysia gefahren. Zwischen Singapur, das auf einer Insel liegt, und der Grenzstadt Johore Bahru in Malaysia gab es einen Damm für Autos, Eisenbahn und Fußgänger. Außerdem wurden über den Damm große Mengen Trinkwasser von Malaysia nach Singapur geliefert. Bei der Ausreise aus Singapur hatten wir überhaupt keine Kontrolle, bei der Einreise in Malaysia hatten wir keine Zollkontrolle, sondern mussten nur unsere Pässe zeigen. Als Bürger:innen der BRD brauchten wir kein Visum für Malaysia, wir bekamen nur einen Einreisestempel in unserem Pass. Auf dem Stempel stand auf Englisch, dass wir 14 Tage in West Malaysia bleiben durften, aber nicht arbeiten durften. An der Grenze in Johor gab es einen fliegenden Geldwechsler, bei dem ich für 10 US-Dollar 22 Malay-Dollar gewechselt habe. Singapur-Dollar und Malay-Dollar hatten übrigens den selben Wert, wahrscheinlich gab es so etwas wie eine Währungsunion zwischen Singapur und Malaysia.

Ausgaben in Singapur
35 DM - Übernachtungskosten
12 DM - für Zahnarzt
8 DM - Busticket nach Malakka
50 DM - Essen und Sonstiges
105 DM für 6 Tage (12. 12. - 17. 12. 1973).

An der Straße nach Malakka waren überall Kautschukplantagen (Rubber Estates) zu sehen, auf denen der weiße Naturkautschuk in kleine Schalen tropfte. Das sah so ähnlich aus wie die brandenburgischen Kiefern in der DDR, die damals auch angezapft wurden. Der Naturkautschuk wurde besonders zur Herstellung von Autoreifen und Latexprodukten verwendet. Der Kautschukbaum (Hevea brasiliensis) aus der Familie der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae) stammt ursprünglich aus dem Amazonasgebiet in Süd-Amerika. Angeblich waren die Kautschukplantagen hauptsächlich in ausländischem Besitz. Auf den Plantagen arbeiteten viele tamilische Arbeiter, deren Tagesverdienst bei 3 Malay-Dollar (entsprach 3,20 DM) lag. Die Exporteinnahmen für den Kautschuk sollten bei 1.400 Millionen Malay-Dollar liegen oder 41 % der Exporteinnahmen Malaysias, gefolgt vom Zinn mit 800 Millionen Malay-Dollar oder 23 % der Exporteinnahmen.

Nach der Ankunft in Malakka sind wir etwas durch die Straßen der Stadt gebummelt und haben in einem Restaurant gegessen. Abends haben wir einen Karatefilm aus Hongkong gesehen, der Film hieß "Der Pirat" und war 1973 erschienen. Der Film erhielt gute Kritiken. Wir haben ein Hotelzimmer für 5 Malay-Dollar gefunden.

Die Stadt Malakka (englisch: Malacca) liegt an der Meeresstraße von Malakka (Strait of Malacca) zwischen der indonesischen Insel Sumatra und der malaiischen Halbinsel. Diese Meeresstraße ist von großer wirtschaftlicher Bedeutung, denn der gesamte Handelsverkehr mit Containerschiffen zwischen Europa und Ost-Asien fährt durch die Straße von Malakka. Sie ist die kürzeste Seeverbindung zwischen Indien und China. Die Straße von Malakka war auch berüchtigt durch die vielen Piraten, die dort aktiv waren. Von einer Schiffsfahrt von Malaysia nach Indonesien wurde dringend abgeraten, da sie wegen der vielen Piraten zu unsicher sei. Die Piraten überfielen Schiffe, um Lösegeld zu erpressen.


18. Dezember 1973, Malakka, Dienstag

Wir haben die Sehenswürdigkeiten in Malakka besucht: Die Überreste der alten portugiesischen Festung, sowie holländische Gräber und Grabtafeln aus dem 17. Jahrhundert. Außerdem waren wir am Grab von Franz Xaver (Francisco de Xavier, 1506 - 1552), der dort vorübergehend begraben war. Franz Xaver war ein katholischer Missionar und Mitbegründer des Jesuitenordens, der später heilig gesprochen wurde. Er wollte die Malaien christianisieren, sie sind aber Moslems geblieben.

Es regnete hier jeden Tag, wir waren ja im Gebiet des tropischen Regenwaldes, auch wenn der ursprüngliche Regenwald vielfach durch Kautschukplantagen verdrängt worden war. Manche Häuser standen auf Pfählen wegen der Feuchtigkeit. Auf den Straßen sah man Malaien, Chinesen und Tamilen, das waren die drei größten Bevölkerungsgruppen in Malaysia. Die Illustrierte aus der Volksrepublik China „China im Bild“ wurde hier auf der Straße in der chinesischen Ausgabe angeboten. Abends haben wir einen Film mit dem bekannten Hollywood-Star Yul Brynner gesehen.


19. Dezember 1973, Malakka - Kuala Lumpur, Mittwoch

Malakka sollte angeblich ein Heroinumschlagplatz sein. Es sollte hier noch viele Leute geben, die Opium rauchten. Die Lokalgangster, die Boote besaßen, sollten hier mit Walkie-Talkies auf der Straße rumlaufen.

Wir sind mit dem Bus die 130 Kilometer von Malakka nach Kuala Lumpur gefahren. Kuala Lumpur war die Hauptstadt von Malaysia. Entlang der Straße lagen wieder viele Rubber Estates. Nach der Ankunft in Kuala Lumpur haben wir ein kleines nettes Hotel für 5 Malay-Dollar gefunden. Wir waren im Touristenbüro, um einen Stadtplan und Infos über die Sehenswürdigkeiten zu bekommen.

© Dr. Christian G. Pätzold, Oktober 2023.


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2023/09/30


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2023/09/28


Markus Richard Seifert
3. November 1964 - 23. Februar 2023
Wir vermissen dich !


markusseifert
Markus Richard Seifert bei einer Dampferfahrt der Berliner Geschichtswerkstatt
auf der Spree vor dem Reichstagsgebäude.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, Mai 2013.


Markus Richard Seifert, unser Mitschreiber auf www.kuhlewampe.net, ist am 23. Februar 2023 in Berlin gestorben.
Hier folgt ein Nachruf von Jürgen Karwelat von der Berliner Geschichtswerkstatt, in der Markus lange aktiv war.


Der Schriftsteller ohne Verlag - ein Nachruf für Markus Seifert
von Jürgen Karwelat


Seine Pseudo-Kapitänsmütze ist noch da. Er selbst aber nicht. Am 23. Februar 2023 starb das vielleicht treueste, jedenfalls leidenschaftlichste Dampfergruppenmitglied Markus Seifert im Alter von 56 Jahren. Markus kam im Jahr 2003 zu uns, als er im Rahmen einer Berufsqualifizierungsmaßnahme Büroarbeit und -organisation lernen sollte. Schnell stellte sich heraus, dass ihm die Arbeit in der Dampfergruppe lag. Markus wurde der Hüter des Dampferbüchertisches, Verteiler der Routenpläne, Produzent der Fahrkarten und häufig das lebende Lexikon, wenn mir auf dem Schiff einmal der Vorname eines Architekten oder einer Schauspielerin nicht einfiel. Markus kannte sich in der Berliner und deutschen Geschichte aus. Im Gegensatz zur Mehrzahl der Dampfergruppe wusste er auch Bescheid über preußische Prinzen und Prinzessinnen. Kein Wunder, er meinte ohnehin, in der vorvorigen Generation geboren und eigentlich viel älter als wir zu sein.

Mit seiner beruflichen Karriere klappte es eher weniger. Er hangelte sich von einer AB-Maßnahme zu einer anderen, die ihm das Arbeitsamt aufdrückte, am liebsten etwas mit Büchern. Auf diese Weise war er mehrfach als "Bibliotheksassistent" in sozialen Einrichtungen, die Bücher verkauften, tätig. In der Dampfergruppe blieb er immer. Charakteristisch war seine aus der Zeit gefallene Handschrift, mit der er unsere Protokollbücher kennzeichnete. Zuletzt arbeitete er in der Ausstellung "Wir waren Nachbarn" im Schöneberger Rathaus und recherchierte Biografien.

Fragte man ihn, was sein Beruf ist, antwortete Markus, er sei "freier Schriftsteller ohne Verlag". Schriftlich bezeichnete er sich zuweilen als "autodidaktischer Historiker". Und beides stimmte. Markus hat Gedichte geschrieben, meist in Versen. Über zweihundert befinden sich in seinem Nachlass. Einige hat er selbst bei Schiffsfahrten zum Besten gegeben. Unser Angebot, daraus einmal ein Buch zu machen, hat er mit den verschiedensten Ausreden so lange verzögert, dass es zu seinen Lebzeiten nicht mehr möglich war, ein Buch daraus zu machen.

Einige kuriose Ereignisse ranken sich um unser ungewöhnliches Vereinsmitglied Markus. In seinen Unterlagen fand ich ein bemerkenswertes Schriftstück. Es heißt: "Bestätigung: Hiermit bestätigen wir, die Unterzeichneten, in unserer Eigenschaft als weibliche Wesen, dass auch für Frauen ein berufsbedingter Umgang mit Herrn Markus Seifert zumutbar ist". Es ist eine Liste von 11 Frauennamen, viele davon aus der Geschichtswerkstatt, mit Unterschrift der Frauen ausgestattet. Weiß der Teufel, was da vorgefallen war und wem Markus diese Bescheinigung vorgelegt hat.

Legendär war die Episode um Markus, als er an einem trüben Novembertag in der Uckermark verloren ging. Bei einer der Wanderungen während unseres Arbeitswochenendes in Metzelthin/nahe Templin war Markus, als er allein zum Ferienhaus zurückkehren wollte, wohl an der einzigen Stelle, wo man falsch abbiegen konnte, statt nach rechts nach links gegangen. Er verlief sich für 2 Stunden in dem weitläufigen dichten Wald. Kein Netz für das Handy. Er passierte ein Denkmal für irgendeinen Adeligen, streifte einen größeren See und landete dann glücklicherweise auf einer Sandstraße, auf der zufällig ein Pärchen mit Auto vorbeikam, das ihn nach Metzelthin bis vor die Tür unseres Domizils brachte. Wir standen dort im Abenddunkel und wollten gerade die Polizei informieren, dass ein Gruppenmitglied im unendlichen Wald verloren gegangen sei. Wir waren alle erleichtert, dass er wieder da war, was unseren Lebensmittelvorräten aber nicht guttat.

Körperlich ging es mit Markus schon lange bergab. Ungesunde Ernährung, wenig Bewegung. Markus war übergewichtig, bekam eine Blutzuckerkrankheit, sein Herz spielte nicht mehr richtig mit. Von Ärzten erwartete er Medikamente als Zaubermittel, ohne selbst viel zum gesunden Leben beizutragen. Die Katastrophe war absehbar, kam dann aber doch überraschend. Im September 2021 verließ er seine Wohnung im vierten Stock nicht mehr, hatte eine große Wunde im Rücken, ließ sich nicht helfen, fiel ins Koma, wohl weil er seine Medikamente nicht genommen hatte und wurde, kurz bevor es Aus war, von seinem Untermieter gefunden. Er musste reanimiert werden. Aus dem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt, davon drei Wochen im künstlichen Koma, kam Markus halbwegs ins Leben zurück. Ich habe ihn seitdem als vom Amtsgericht berufener "ehrenamtlicher Betreuer" begleitet. Er konnte nicht mehr richtig laufen. Kommunikation war möglich, besonders über seinen Wunsch, wieder auf dem Schiff dabei zu sein. Sein Problem war aber nun, dass er sich als krank und hilfsbedürftig ansah und man ihm nach und nach bei nahezu allem helfen sollte. Das nahm zum Teil skurrile Züge an. So rief er eines Nachts die Polizei an, weil der Pfleger in der Reha-Klinik auf sein Rufen nicht sofort kam.

Die Spirale bewegte sich im Kreis immer weiter nach unten: Krankenhaus-Reha-betreute Wohngemeinschaft-Krankenhaus-WG-Krankenhaus-WG. Der extrem übergewichtige Markus wurde immer dünner, von 5XL runter auf XL. Die Kommunikation wurde immer eingeschränkter, keine Unterhaltungen mehr über Bücher, Gedichte, Dampferfahrten, kein Fernsehen, kein Radio. Markus bewies wieder einmal Eigensinn, diesmal in seinem Weg in den Abgrund. Das lag sicherlich auch an den Schäden, die er durch das Koma erlitten hatte. "Allgemein schlechter Zustand" hieß es. Er aß nicht mehr. Das Krankenhaus teilte mir mit, dass er "austherapiert" sei, eine sehr intellektuelle Bezeichnung dafür, dass ihm kein Medikament und keine Operation mehr helfen könne. Seine Nieren versagten aufgrund des nicht mehr zu bekämpfenden Infekts. Am Morgen des 23. Februar 2023 erhielt ich den Anruf, dass Markus in der Nacht gestorben sei.

Wir haben uns am 18. April 2023 an unser Vereinsmitglied Markus Seifert erinnert und seine Urne auf dem Alten Friedhof in Schöneberg, Hauptstraße, beigesetzt. Das passt, denn Markus war Ur-Schöneberger, geboren in der Wohnung seiner Eltern, aus der er nie ausgezogen war. Bis auf eine Reise nach Hamburg und die Wochenenden der Dampfergruppe in der Uckermark hat er Berlin nie verlassen. In gewisser Weise war er ein Berliner Original. Wir werden noch viele Jahre an ihn denken, wenn uns wieder einmal irgendein Schriftstück mit seiner ungewöhnlichen Handschrift in die Hände fällt.

© Jürgen Karwelat, September 2023.


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2023/09/25


dr. christian g. pätzold
dedication (unvollständige liste)


• angela davis
• bert brecht
• charles fourier
• che guevara
• diogenes von sinope
• egon erwin kisch
• emile zola
• erich mühsam
• fidel castro
• friedrich engels
• fritz teufel
• georg büchner
• heinrich heine
• henry david thoreau
• herbert marcuse
• ho chi minh
• joan baez
• john heartfield
• julian assange
• karl marx
• kurt tucholsky
• malcom x
• mao zedong
• rudi dutschke
• salvador allende
• sigmund freud
• spartacus
• thomas münzer
• william morris

© dr. christian g. pätzold, september 2023.
(nicht von chat gpt oder ki geschrieben).


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2023/09/21


Pablo Neruda zum 50. Todestag
Parral/Chile 12. Juli 1904 - Santiago de Chile 23. September 1973


pabloneruda
Mosaik für Pablo Neruda von Paula Guerra in Santiago de Chile.
Foto von Rodrigo Fernández. Quelle: Wikimedia Commons.


Sein Name war Ricardo Eliécer Neftalí Reyes Basoalto, sein Künstlername Pablo Neruda.

Am 11. September 1973 ereignete sich der rechte Militärputsch in Chile, in dem der Präsident Salvador Allende und viele Chilenen und Chileninnen getötet wurden. Pablo Neruda, der Literaturnobelpreisträger von 1971 und Freund von Salvador Allende, wurde wenig später am 23. September 1973 von den chilenischen Faschisten vergiftet.

Zur Erinnerung an Camarada Pablo Neruda hier eines seiner Gedichte aus dem »Canto General«, seinem großen Opus über die Geschichte Lateinamerikas. Zunächst das spanische Original, dann die deutsche Übersetzung von Erich Arendt:


Algunas Bestias

Era el crepúsculo de la iguana.

Desde la arcoirisada crestería
su lengua como un dardo
se hundía en la verdura,
el hormiguero monacal pisaba
con melodioso pie la selva,
el guanaco fino como el oxígeno
an las anchas alturas pardas
iba calzando botas de oro,
mientras la llama abrí cándidos
ojos el la delicadeza
del mundo lleno de rocío.
Los monos trenzaban un hilo
interminablemente erótico
en las riberas de la aurora,
derribando muros de polen
y espantando el vuelo violeta
de las mariposas de Muzo.
Era la noche de los caimanes,
la noche pura y pululante
de hocicos saliendo del légamo,
y de las ciénagas soñolientas
un ruido opaco de armaduras
volvía al origen terrestre.

El jaguar tocaba las hojas
con su ausencia fosforescente,
el puma corre en el ramaje
como el fuego devorador
mientras arden el él los ojos
alcohólicos de la selva.
Los tejones rascan los pies
del río, husmean el nido
cuya delicia palpitante
atacarán con dientes rojos.

Y en el fondo del agua magna,
como el círculo de la tierra,
está la gigante anaconda
cubierta de barros rituales,
devoradora y religiosa.


Einige Tiere

Es war die Morgenhelle der Leguan-Echse.

Vom regenbogenschimmernden Zackenkamm
schnellte wie ein Wurfpfeil
ins Grün ihre Zunge nieder,
der mönchische Ameisenbär betrat
den Urwald melodischen Schritts,
das Guanaco, zart wie Sauerstoff,
in den weiten fahlen Höhen,
lief, goldene Stiefel tragend, einher,
indes mit unschuldsvollen Augen das Lama
aufsah in der Lieblichkeit
der tauerfüllten Welt.
An den Ufern der Morgenröte
flochten die Affen einen unendlich
erotischen Faden,
wobei sie Wände von Blütenstaub niederrissen
und den veilchenfarbenen Flug aufscheuchten
der Schmetterlinge von Muzo.
Es war die Nacht der Kaimane,
die unberührte Nacht, wimmelnd
von Rachen, die hervorkamen aus dem Schlamm;
von den schläfrigen Lagunen
kehrte ein dumpfes Geräusch von Panzern
zum irdischen Ursprung zurück.

Mit seinem phosphoreszierenden Fernsein
tastet der Jaguar an die Blätter,
der Puma bricht, wie verzehrendes
Feuer, ins Gezweig,
während in ihm die alkoholischen
Augen der Wildnis brennen.
Die Dachse zerwühlen die Ufergründe
des Stroms, sie wittern das Nest,
dessen flügelschlagende Zärtlichkeit
sie anfallen werden mit roten Zähnen.

Und in der Tiefe des mächtigen Wassers
lebt, dem Umfang der Erde gleich,
die gigantische Anacondaschlange,
bedeckt mit heiligem Schlamm,
die Allesverschlingende, Abgöttische.


Literatur:

1 Pablo Neruda: Ich bekenne ich habe gelebt. Memoiren.
Berlin 1979, Verlag Volk und Welt, 480 Seiten.

2 Pablo Neruda: Gedichte. Nobelpreis für Literatur 1971.
Zürich ohne Jahr, Coron-Verlag, 448 Seiten.
Übersetzung der Gedichte aus dem Spanischen von Erich Arendt.


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2023/09/17


Jack Kerouac: Quotes


"[...] the only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirous of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn, burn, burn like fabulous yellow roman candles exploding like spiders across the stars and in the middle you see the blue centerlight pop and everybody goes "Awww!"
Jack Kerouac, On the Road
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"One day I will find the right words, and they will be simple."
Jack Kerouac, The Dharma Bums
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"Live, travel, adventure, bless, and don't be sorry."
Jack Kerouac
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"There was nowhere to go but everywhere, so just keep on rolling under the stars."
Jack Kerouac, On the Road: The Original Scroll
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"I like too many things and get all confused and hung-up running from one falling star to another till i drop. This is the night, what it does to you. I had nothing to offer anybody except my own confusion."
Jack Kerouac
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"Nothing behind me, everything ahead of me, as is ever so on the road."
Jack Kerouac, On the Road
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"The only truth is music."
Jack Kerouac
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Quelle: https://www.goodreads.com/author/quotes/1742.Jack_Kerouac


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2023/09/13


Jack Kerouac: Die Dharmajäger
Leben, Werk, Beatniks

von Wolfgang Weber


kerouac
Jack Kerouac um 1956.
Foto von Tom Palumbo.
Quelle: Wikimedia Commons.


12.03.1922 geboren, Lowell, Massachusetts, Neuengland
21.10.1969 gestorben, St. Petersburg, Florida an Magengeschwür: Alkohol, Drogenmissbrauch

Jean-Louis Lebris de Kérouac, kurz Ti-Jean (Petit Jean)

• Sohn franko-kanadischer Eltern, auch Irokesisches Blut; working class

• Vater Leo, Drucker, dunkelhäutig, streitsüchtig, Alkoholiker, Wetten, Pferdebahn, stirbt 1946
• Mutter Gabrielle, arbeitet in Schuhfabrik, lebt später in South Carolina, Florida, wenn nicht auf Reisen, lebte er oft bei ihr

• Schwester Caroline (Nin), 1918 - 1954

• römisch-katholisch, von Jesuiten erzogen
Familienwappen: aimer travailler et souffrir

• 1926 Bruder Gérard stirbt früh, traumatische Erfahrung, literarisch verarbeitet
• 1943 The sea is my brother
Visions of Gérard

• Einzelgänger
Stummfilm-Pantomimen, Mambo und Sousamärsche (Victrola)

• Sport: Football, Sprinter
• 1930 Comic Kuka & Koko im Kern der Erde

• spricht bis zum 5. Jahr nur Joual, franko-kanadische Mundart (Mutter spricht kaum Englisch), lernt Englisch erst in der Schule
Lehrer motiviert ihn, zu schreiben

Highschool
• 1940 Columbia University New York City: 1941 football Stipendium

• 1943 Handelsmarine, entlassen wegen Diagnose: paranoid-schizophren, "indifferent character"

heiratet dreimal
• 1946 Edie Parker
• 1950 Joan Haverty
• 1966 Stella Stampas

Tochter ohne Vater
• Kerouac erkennt Vaterschaft nicht an, will keinen Unterhalt zahlen

• 1952 - 1996
• Jan Kerouac (Janet Michelle Kerouac)

• ebenfalls unterwegs, schreibt drei Romane, z.B. Baby Driver
an Blutkrankheit gestorben

Sie sieht ihn nur zweimal im Leben
• 1962 vor Gericht, er zahlt ganze 52 Dollar Alimente, und 1967

• 1956 Brandwächter auf dem Desolation Peak

• 1957 tippt er für William S Burroughs das Manuskript von Naked Lunch, in Tanger, Marokko

Wanderjahre
• trampt durch USA, Mexico, springt auf Güterzüge, Greyhound Bus
• Tagebuch, liest viel

Inspirationen

• Thomas Wolfe, Look homeward angel
• WB Yeats, A vision, the second coming
• WH Auden, The age of anxiety
• André Gide, Les caves du Vatican
• Albert Camus, L’Étranger
• James Joyce, Finnegan’s wake
• Oswald Spengler, Untergang des Abendlandes

ebenfalls im Bücherregal
• Fjodor Dostojewski
• Herman Melville
• Marcel Proust

Französische Poeten
• Guillaume Apollinaire
• Arthur Rimbaud
• Charles Baudelaire

Inspiration: Kunst ist die höchste Aufgabe und die eigentliche metaphysische Aktivität des Lebens. Nietzsche

• 14.08.1944, Lucien Carr ersticht Freund David Kammerer

• Kerouac liest im Gefängnis: Aldous Huxley, Brave new world

In Romanen thematisiert:
• William S Burroughs und Kerouac, And the hippos were boilt in their tanks, 1945/2008, dt. Die Nilpferde kochten in ihren Becken

• The town and the city
• The vanity of Duluoz

Neue Visionen, neues Bewusstsein, Jugend, Avantgarde, Moral, Ästhetik, Konzepte der Beats

• Unzensierter Ausdruck eigener Persönlichkeit
• Bewusstsein der Künstler durch nicht-rationale Mittel erweitert: Drogen, Träume, Halluzinationen, Alkohol
• Sexualität ausleben
• Kunst tritt an Stelle der Gebote konventioneller Moral

Kerouac
• sieht Romane als zusammenhängende Autobiographie an

• authentisch, menschlich
• spontane oder wilde Prosa und Lyrik
• bop prosody: spontan, surreal, sprunghaft, rhythmisch
• Bebop: (zunächst polarisierender) Stil des Jazz seit den 40ern, neu, aufregend, authentisch, provokant
• Prosodie: aus dem Griechischen, Lehre von den für die Versstruktur wesentlichen Elementen

• Slam poetry aka poetry slam, vom Vortragsstil der Beats inspiriert?

Vorwort Mexico City Blues: Ich möchte als jazz poet betrachtet werden, der einen langen Blues bläst, Sonntag nachmittags bei einer Jam Session. Ich spiele 242 Chorusse.

moderne Metaphysik der Bewegung (M.Nawrat)

• Unterwegs USA, Mexico, etc.
• Können Menschen überhaupt irgendwo ankommen?
• bleiben oder weiter?

• Partyexzesse der Poeten
• Hinwendung zum Buddhismus

• Bergsteigen. Naturbeschreibungen
• rucksack revolution

• Begegnungen unterwegs
• Kerouac schafft in wenigen Zeilen Figuren aus dem Nichts

Buddhismus

• Kerouac konvertiert 1954
• meditiert viel
• Leben: Ein einziger Kampf
• Ursache allen Leids: dummes Verhalten
• Nachsicht, Milde, die er im Katholizismus vermisst
• Ich überwinden, Disziplin des Buddhismus
• Entsagung, kein Alkohol, kein Sex, nur eine Mahlzeit. Jedenfalls theoretisch

The Dharma bums: Begriffe

• Dharma: Wahrheit
• Bum: Penner, Gammler, Nichtstuer, Herumtreiber, nicht: Jäger
• Hobo: Vagabund, Landstreicher, Wanderarbeiter

• Kapitel 18:Charlie Parker, Relaxin' at Camarillo, psychiatrische Klinik

• Kapitel 29: grandioser Ausblick auf Mount Tamalpais, Marin County, California (Oscar Pettiford)

• Kapitel 29: Japhys Gedicht auf Schriftrolle: Endlose Flüsse und Berge

• Kapitel 30: Japhy geht an Bord für Japan-Reise (Vorbild Gary Snyder war 10 Jahre dort)

Abschiedsgeschenk Ray an Japhy:

Mögest Du den Diamantschneider des Erbarmens benutzen

Diamantsutra: Sich für die Leere öffnen

Skid row: Viertel großer Armut, Obdachlosigkeit, LA und anderswo

Roy Hamilton: Everybody’s got a home but me, Hit auf shellac 1955, EPIC, R&B / great American songbook

Han Shan: Gedichte vom kalten Berg, chinesischer Dichter der Tang-Dynastie, 7./8. Jh.

Haiku: japanische Gedichtform, siebzehn Silben in drei Zeilen: sieben - fünf - fünf Silben

Begriffe des Buddhismus

• Avalokithesva: Gottheit des Mitgefühls
• Boddhisatva: Erleuchtetes Wesen
• Bhikku: Bettler, Mönch
• Dharma: Wahrheit
• Dharmakana: der wahre Sinn
• Koan: Zen-Erfahrung
• Nirvana: blown-out-ness, Nichts
• Samadhi: Ekstase, alles los lassen
• Satori: Erleuchtung, universelles Wesen des Daseins
• Sutra: Leitfaden, Lehre des Buddha
• Tathata: Das was alles ist
• Tathagata: Titel für Buddha, Der Vollendete

Lesung Six Gallery 13.10.1955

• Avantgarde Gallery, offene Bühne, Treffpunkt (= KING UBU Gallery 1952, benannt nach Alfred Jarrys Stücken um Le Roi Ubu)

• Dichterlesung, initiiert von Wally Hedrick

• moderiert und organisiert: Kenneth Rexroth
• Michael McClure, Philip Lamanthia, Gary Snyder, Philip Whalen und als Höhepunkt: Allen Ginsberg, aus: The Howl, verlegt von Lawrence Ferlinghetti, City Lights Bookstore, erster Taschenbuchladen

• Kerouac liest nicht, denn: Ein Dichter ist kein Hofnarr, sage ich. Aber er, er stellt sich auf die Bühne und heult seine Texte vor.

• Im Publikum 100 Leute auf 50 qm, Anarchisten, Professoren, Tischler, Anzug/Krawatte, Jeans/Pulli

• Beginn der San Francisco poetry renaissance

• vertont vom Emil Mangelsdorf Quartet mit Sebastian Norden 1981: Das Geheul und America

Beatniks (Klischee oder real?)

cats (Männer) und chicks (Frauen) wie im Jazz

• cats:
Kinnbart, langes Haar, Barett, schwarze Jeans, Rollkragen, oder weißes T-Shirt, Marihuana, Bongos, Lyrik, Jazz

• chicks:
mager, langes Haar, blasses make up, schwarzes Trikot, Sandalen, bei Lesungen, schwarze Jazzmusik

• Beatnik = Beat Generation und Sputnik
manche meinen, die späteren Hippies

• Der hype um die Beatniks ging so weit, dass man sie für Parties buchen konnte, ob Originale oder Kopien, entzieht sich meiner Kenntnis. Kerouac hielt nichts von solchen kommerziellen Auswüchsen einer literarischen Jugendbewegung.

Werke. Auswahl

Zwischen Entstehung und Veröffentlichung liegen oft einige Jahre, bedingt durch Schwierigkeiten, Verlage zu finden, too explicit

• Zahlreiche Beiträge in Anthologien, Zeitschriften, roadsides (Flugblätter?)

Novels / Romane

On the road, The Dharma bums auf scrolls, Papierrollen geschrieben (Fernschreiberpapier)

Durchbruch mit
• 1948/1957 On the road, dt. Unterwegs
• 2001 scroll für 2,5 Millionen $ versteigert, mehr als er zu Lebzeiten verdient hat.
• 1952/73 alternative Version: Visions of Cody
• 2007 On the road. The original scroll
• 2010 dt. On the road. Die Urfassung

• 1957/1958 The Dharma bums, geschrieben 11/1957 in Orlando/Florida
• dt. 1963 Werner Burkhardt Gammler, Zen und Hohe Berge und
• 2010/2022 Thomas Überhoff Die Dharmajäger, Nachwort Matthias Nawrat, Der Mönch auf dem Desolation Peak
• 1953-54 Some of the Dharma

• 1950 The Town and the city, als John Kerouac
• 1953 The Subterraneans
• 1979 dt. Be-Bop, Bars und weißes Pulver
• 1960 Passing through. dt. Engel, Kif & neue Länder
• 1960 Tristessa
• 1961 Book of dreams
• 1962 Big Sur
• 1956/1963 Visions of Gérard
• 1959 Dr. Sax
• 1965 Desolation angels, dt. Engel der Trübsal
• 1966 Satori in Paris
• 1968 The Vanity of Duluoz. An adventurous education, dt. Die Verblendung des Duluoz

Poetry / Gedichte

• 1959 Mexico City blues
• 1983 San Francisco blues
• 1986 American Haikus

Records / Schallplatten

• 1959 Poetry for the beat generation, Steve Allen Piano, aus Mexico City blues etc.
• 1959 Blues and Haikus
• 1960 Readings by Jack Kerouac for the Beat Generation

• 1959 Steve Allen Show mit Jack Kerouac

Drama

• The Beat Generation, 2005 wieder entdeckt

Film

• The Beat Generation (Drehbuch Kerouac), Kurzfilm
• Andy Warhol 1964 Couch, mit Kerouac, Ginsberg, Gregory Corso, Peter Orlowsky
• 1964/2016 Pull my daisy, Filmskript
• 2013 Kill your darlings, Doku-Film über die Anfänge der Beat generation, Ginsberg, Kerouac

Bands und Autoren wie (kleine Auswahl):

• King Crimson: Beat
• The Beatles, beetle = Käfer
• Bob Dylan, Joan Baez, Donovan, Patti Smith, Tom Waits, Jim Morrison & The Doors
• Mods: The Kinks, etc.

Subkultur, Pop Literatur
counter culture / Gegenkultur
• TC Boyle, Tom Robbins, Thomas Pynchon, Hunter S. Thompson
• D: Jörg Fauser, A: Peter Handke
• Jazz & Lyrik: Peter Rühmkorf

Bereits 1941 wurde Jack Kerouac eine in Minton's Playhouse aufgenommene Jazzimprovisation gewidmet: Kerouac, mit Charlie Christian, Gitarre und Dizzy Gillespie, Trompete.

Quelle
Steven Watson, The Beat Generation, Visionäre, Rebellen und Hipsters 1944 - 1960, Hannibal Verlag 1997, Dokumente, Fotos, Zitate

Namen in The Dharma Bums

Reale Namen - Fiktive Namen

Jack Kerouac - Ray Smith
Gary Snyder - Japhy Ryder
Allen Ginsberg - Alvah Goldbook
Neal Cassady - Cody Pomeray
Philip Whalen - Warren Coughlin
Lawrence McCorcle - Sean Monahan
Philip Lamontia - Francis da Pavia
Michael McClure - Ike O'Shay
Peter Orlowsky - George
Kenneth Rexroth - Rheinhold Cacoethes
Alan Watts - Arthur Whane
Caroline Kerouac - Nin
Claude Dalenburg - Bud Diefendorf
Natalie Jackson - Rosie Buchanan
John (McVey) Montgomery - Henry Morley

Kerouac in weiteren Romanen als:
• Jack Duluoz (7x)
• Leo Percepied (The Subterraneans)
• Peter Marin (The town and the city)
• Sal Paradise (On the road)

Staaten der USA in The Dharma Bums

• Alabama
• Arizona
• Arkansas
• California
• North Carolina
• South Carolina (Wohnsitz Mutter)
• Florida (dort geschrieben)
• Georgia
• Illinois
• Indiana
• Louisiana
• Missouri
• Nevada
• New Mexico
• Ohio
• Oklahoma
• Oregon
• Texas
• Washington

• sowie Mexico

© Wolfgang Weber, September 2023.
Für den Lesekreis am 22.07.2023.


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2023/09/09


Vor 50 Jahren:
Faschistischer Putsch in Chile am 11. September 1973
gegen die Regierung von Salvador Allende

Victor Jara zum 50. Todestag


victorjara


Das letzte Lied, das Genosse Victor Jara vor seiner Ermordung gesungen hat:

Venceremos !

Desde el hondo crisol de la patria
Se levanta el clamor popular
Ya se anuncia la nueva alborada
Todo Chile comienza a cantar

Recordando al soldado valiente
Cuyo ejemplo lo hiciera inmortal
Enfrentemos primero a la muerte
Traicionar a la patria jamás

Venceremos, venceremos
Mil cadenas habrá que romper
Venceremos, venceremos
Al fascismo sabremos vencer

Campesinos, soldados, mineros
La mujer de la patria también
Estudiantes, empleados y obreros
Cumpliremos con nuestro deber

Sembraremos las tierras de gloria
Socialista será el porvenir
Todos juntos haremos la historia
A cumplir, a cumplir, a cumplir

Venceremos, venceremos
Mil cadenas habrá que romper
Venceremos, venceremos
Al fascismo sabremos vencer.


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2023/09/05


Sabine Rahe
Ausverkauf


Ab Juli wird der Sommer ausverkauft.
Das ist eben so.
Da kannste nix machen.
Das ist Kapitalismus.

Dann bringen die Boten
die Waren für die nächste Saison
die Treppe hinauf.
Das ist eben so.

Und wenn man den Boten
um den Profit bescheißt,
dann ist das halt so.
Da kann man nix machen.
Der hätt' in der Schule
lieber besser aufgepasst.

© Sabine Rahe, September 2023.
www.die-dorettes.de


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2023/09/01


Dagmar Sinn
Lavendelanbau in Deutschland - eine kleine Geschichte


lavendel1
Lavendelwelt auf 5 Hektar. Taoasis in Lage bei Detmold am Teutoburger Wald.
Foto von © Dagmar Sinn, Juli 2023.

lavendel2
So sehen Deutschlands größte Lavendelfelder in Lage (NRW) aus.
Foto von © Dagmar Sinn, Juli 2023.


Lavendel kennt fast jeder, als Zierpflanze im Garten, aber auch als Heilpflanze. Natürlich wächst die anspruchslose strauchige Pflanze auf den trockenen Kalkböden im Süden Frankreichs, in der Haute Provence, wo sonst? In der Nähe des Teutoburger Waldes? Was für eine Idee! Doch ist es dem ehemaligen Hippie Axel Meyer zu verdanken, dass ein scheinbar verrückter Gedanke Wirklichkeit wird. Als Weltreisender in den 70er und 80er Jahren unterwegs, lernte er bei einem alten erfahrenen Meister in Südindien, wie man aus Kräutern und Blumen ätherisches Öl gewinnt. Wieder zuhause, veröffentlichte er in seinem eigenen Buchverlag »Das kleine Lexikon der Düfte«. Den Verlag nennt er "TAOASIS", Leben im Einklang mit der Natur.

Er wird bekannt und versucht zunächst auf kleineren Flächen und leeren Äckern Lavendel anzubauen. Das Experiment gelingt und führt vor gut 30 Jahren zur Gründung einer Natur Duft Manufaktur. Heute kann man ein modern aufgestelltes Familienunternehmen besuchen, das schon lange vor der ersten Bio-Welle ätherisches Demeter zertifiziertes Lavendelöl durch Wasserdampfdestillation gewinnt und zwar direkt vom Feld. Man verarbeitet ausschließlich Arzneibuchqualität, den echten Lavendel (Lavandula angustifolia) für die Aromatherapie. Auch viele andere Pflanzen mit ätherischem Öl wachsen auf den firmeneigenen Feldern, z.B. Salbei, Koriander, Ysop, Immortelle und werden für die Aromatherapie verarbeitet. Lavendel aber ist und bleibt der Allrounder, Einschlaf- und Entspannungsmittel, mild desinfizierend bei Hautirritationen, ein klassisches Massageöl und Aromabad.

© Dagmar Sinn, September 2023.


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2023/08/31


vorschau09


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2023/08/28


Schwarze Pädagogik


Damals in meiner Kindheit in den 1950er Jahren, als fast alle Mädels Dagmar, Elke und Hannelore, und die Jungs Christian, Gernot und Wolfgang hießen, war ich von meinen Eltern tagsüber in einen privaten Kindergarten gesteckt worden. Das war aber kein Garten, wie man vielleicht denken könnte, sondern eine ganz normale Berliner Mietwohnung. Wenn ich dort irgendeine spontane Lebensäußerung getan hatte, musste ich mich in die Ecke des Zimmers stellen, mit dem Gesicht zur Wand, und durfte mich nicht rühren. Da stand ich nun, und stand, und stand. Und wusste gar nicht warum. So lange stand ich da, bis die Kindergärtnerinnen meinten, dass es jetzt reicht.

Viel später habe ich erfahren, dass das schwarze Pädagogik war. Den Kindern sollte ihre Natürlichkeit ausgetrieben werden. Das waren noch die deutschen Nazi-Methoden, um angepasste Untertanen für den Führer zu züchten. Auschwitz war gerade mal 10 Jahre her. Vorläufer war der preußische Untertanengeist. Durch den gesellschaftlichen Druck und die Erziehung sollten Menschen als Druckerzeugnisse produziert werden, als verängstigte und angepasste Personen. Manchmal entstanden aber auch Gegendruck und Widerstand. Erst nach der Studentenbewegung von 1968 gab es den Begriff antiautoritär in nennenswertem Umfang.

Dr. Christian G. Pätzold.

tuerke
Der Autor im Kindergarten, als "Türke" verkleidet, Fastnacht 1956.
Die türkischen "Gastarbeiter" 10 Jahre später sahen aber ganz anders aus.


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2023/08/25


Blumengruß aus der Weisestraße


wicke
Zaun-Wicken von © Dr. Wolfgang Endler, Juli 2023.


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2023/08/22


dr. christian g. pätzold
berliner geheimsprache


waschmaschine - bundeskanzleramt
schwangere auster - kongresshalle
telespargel - fernsehturm am alex
hohler zahn - gedächtniskirche in charlottenburg
knie - ernst-reuter-platz
knut - eisbär im zoo
bulette & knautschke - nilpferde im zoo
tristan otto - saurier im naturkundemuseum
wuffke - haushund
hungerharke - luftbrückendenkmal in tempelhof
goldelse - siegesgöttin auf der siegessäule
kuhdamm - kurfürstendamm
potse - potsdamer straße
oberschweineöde - oberschöneweide
regenbogenkiez - um den nollendorfplatz
spree-athen - berlin
balinarin - berlinerin
ikap hunga - ich habe hunger
schawarma - arabischer döner
veganer kebab - fleischspieß ohne fleisch
xb - kreuzberg
görli - görlitzer park
kotti - kottbusser tor
boxi - boxhagener platz
stutti - stuttgarter platz
rüdi - rüdesheimer platz
vicki - viktoria-luise-platz
jwd - janz weit draußen
dufte - gut, cool
knorke - sehr gut, megacool
da kannste nich meckern - höchstes berliner lob 🌝.

© dr. christian g. pätzold, august 2023.
(nicht von chat gpt oder ki geschrieben)


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2023/08/18


Leuchtturm Darßer Ort


leuchtturm
Foto von © luke sonnenglanz.


"Diesmal bestiegen wir den Leuchtturm, um einen Blick über die Halbinsel zu gewinnen. In meiner Fantasie entstand ein gigantischer Blick über sämtliche Ortschaften des Darßes, wie ein Blick auf die Landkarte, nur größer und in echt. Doch was bekamen wir zu sehen? Nur endlosen Wald, so weit das Auge reicht, ein Meer aus Bäumen bis zum Horizont, anschließend an den Strand und die Ostsee. Manchmal ist die Fantasie der eigentlichen Schönheit im Weg."

Enrico Neumann.

Buchtipp
Enrico Neumann: Perspektiven Prerows. Bilder aus dem Äußeren, Geschichten aus dem Inneren.
Berlin 2021, kleineweltenverlag, 48 Seiten, mit 33 Fotos.


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2023/08/14


dr. christian g. pätzold
aktuelle gräueldaten oder die schrecken des krieges


24. februar 2022
beginn des russischen angriffskriegs gegen die ukraine
"militärische spezialoperation"
36.107 getötete ukrainische zivilpersonen
17.500 getötete ukrainische soldaten und soldatinnen
113.500 verwundete ukrainische soldaten und soldatinnen
43.000 getötete russische soldaten und soldatinnen
180.000 verwundete russische soldaten und soldatinnen
kriegsinvalid:innen
tägliche gräueldaten aus dem radio

drohnen, überschallraketen, artillerie, panzer
gnadenloses feuer, stahlgewitter im sekundentakt
granatensplitterregen, sehr wahrscheinlicher tod
ihr wart kanonenfutter an der front
die rüstungsindustrie verdient milliarden

15.000 vermisste in der ukraine
458 leichen nach massaker in butscha
300 zivilisten, frauen und kinder, wurden bei der bombardierung
des theaters von mariupol getötet
bis zu 150.000 nach russland deportierte ukrainische kinder
imperialist und massenmörder putin freut sich über neue untertanen

60 bewohner eines altersheims in popasna wurden
durch eine russische phosphorbombe getötet
folter, verstümmelung, mord
mindestens 17 getötete journalisten und journalistinnen in der ukraine
vergewaltigungen
7,9 millionen ukrainische geflüchtete laut UNHCR bis 22. november 2022
über 1 million ukrainische kriegsflüchtlinge in deutschland

opferzahlen des ukraine-krieges laut wikipedia
und die zahlen steigen täglich.

© dr. christian g. pätzold, august 2023.
(nicht von chat gpt oder ki geschrieben)


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2023/08/10


Tyrannosaurus rex
im Naturkundemuseum in Berlin Mitte, Invalidenstraße


tyrannosaurus
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2023.


Das Saurierskelett eines Tyrannosaurus rex (mit dem albernen Spitznamen Tristan Otto) ist zu sehen im Naturkundemuseum Berlin.
Der Saurier ist 12 m lang und 4 m hoch.
Er wurde 2010 in Montana/USA gefunden und ist noch sehr gut erhalten, dafür dass er schon 66 Millionen Jahre alt ist.
Von den 300 Einzelteilen des Dinosauriers sind 170 originale Fossilien, insbesondere der Schädel ist zu 98 % original.
So ein schaurig schöner Tyrannosaurus rex ist über 30 Millionen €uro wert. Er gehört zwei reichen Dänen und ist zeitweise an das Naturkundemuseum Berlin ausgeliehen.

Was gibt es noch im Naturkundemuseum zu sehen? Zum Beispiel den berühmten Urvogel Archaeopteryx lithographica, ein Saurier mit Flügel und Federn, aus dem sich die heutigen Vögel entwickelt haben. Der Archaeopteryx wird auch die "Mona Lisa der Naturkunde" genannt. Beeindruckend ist auch die Nass-Sammlung mit 1 Million Tieren in 276.000 Gläsern und in 80 Tonnen Alkohol, die für die wissenschaftliche Forschung genutzt wird. Im Naturkundemuseum Berlin arbeiten etwa 200 Wissenschaftler:innen daran, die Natur der Erde besser zu verstehen.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/08/06


Pollinator Pathmaker von Dr. Alexandra Daisy Ginsberg
Ein lebendes Kunstwerk für Insekten
vor dem Naturkundemuseum in Berlin Mitte, Invalidenstraße
bis 1. November 2026


pollinator
Pollinator Pathmaker, Wegbereiter für Bestäuber.
Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2023.


Das Kunstwerk besteht aus über 7.000 Pflanzen von 80 Arten für Bestäuberinsekten wie Bienen, Hummeln, Schmetterlinge, Käfer etc.
Das Gartenkunstwerk hat eine Fläche von 720 Quadratmetern.
Die Pflanzen wurden von einem Algorithmus ausgesucht, den auch die Bevölkerung für Bestäubergärten und Schüler:innen für ihre Insektengärten verwenden können. Das Ganze nennt sich Citizen Science, die Verbindung zwischen Bevölkerung und Wissenschaft.


Das Naturkundemuseum Berlin schreibt:

"Bestäubende Insekten

Der Bestand an bestäubenden Insekten ist in den letzten 40 Jahren dramatisch zurückgegangen. Die Hauptgründe dafür sind der Verlust von Lebensräumen, Umweltgifte wie Pestizide und der Klimawandel. Während in den Medien oft fälschlicherweise vom Rückgang der Honigbienen die Rede ist, sind viele hundert Arten von Wildbienen, Schmetterlingen, Schwebfliegen und anderen Gruppen ganz besonders vom Insektensterben betroffen. Als wesentlicher Bestandteil unseres Ökosystems bestäuben diese Insekten viele unserer Nutzpflanzen und tragen auch zum Erhalt und der Vermehrung der großen Pflanzenvielfalt in unseren Gärten und Naturlandschaften bei.

Um diesem Verlust entgegenzuwirken, entwickeln Städte auf der ganzen Welt Strategien zur Erhaltung der Artenvielfalt und zur Förderung von Bestäubern. Die Schaffung von städtischen Lebensräumen mit einer Vielzahl von insektenfreundlichen Wildblumen steht dabei oft im Vordergrund, da sie wichtige Nahrung und Lebensraum bieten und so die Populationen fördern können.

Auf die Mischung kommt es an!

Saatgutmischungen für Wildblumen werden in Privathaushalten immer beliebter. Doch nicht alle Mischungen sind für die heimischen Bestäuber per se von Vorteil. Auch bieten hochgezüchtete Zierblumen den Insekten oft gar keine Pollen- oder Nektarquellen mehr.

Bei der Anlage von Wildblumenbeeten sollte daher darauf geachtet werden, dass geeignete Pflanzen ausgewählt werden, die überwiegend in der Region heimisch sind. Darüber hinaus kann die Verwendung von Frühblühern dazu beitragen, schon früh im Jahr eine Nahrungsgrundlage zu schaffen. Verschiedene Strukturen in den Beeten und wilde Ecken im Garten bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten für Insekten. Auf diese Weise kann auch zu Hause ein kleiner Beitrag zur Verbesserung des Lebensraums für bestäubende Insekten geleistet werden.

Zur Künstlerin

Dr. Alexandra Daisy Ginsberg untersucht in ihrer Praxis die belastete Beziehung des Menschen zur Natur und zur Technologie. In Kunstwerken, Texten und kuratorischen Projekten widmet sie sich unterschiedlichen Themen wie künstlicher Intelligenz, synthetischer Biologie, Naturschutz, Biodiversität und Evolution. Dabei erforscht Ginsberg den menschlichen Impuls, stets die Welt "verbessern" zu wollen."


Liste der Pflanzenarten (mehrjährige Stauden, geeignet für den Standort Berlin):

• Genista lydia
• Bergenia 'Abendglocken' (Ersatz: Bergenia 'Eroica')
• Geranium × cantabrigiense 'Biokovo'
• Geranium sanguineum
• Centaurea nigra (Ersatz: Centaurea montana)
• Helleborus foetidus (Ersatz: Helleborous argutigolius)
• Astrantia major subsp. involucrata 'Shaggy'
• Selinum wallichianum
• Limonium platyphyllum (Ersatz: Limonium latifolium)
• Thalictrum aquilegifolium
• Nepeta sibirica
• Rudbeckia subtomentosa 'Henry Eilers'
• Doellingeria umbellata. (Ersatz: Aster umbellatus 'Weißer Schirm')
• Aster amellus 'King George' (Ersatz: Aster amellus 'Breslau')
• Papaver orientale 'Karine' (Ersatz: Papaver orientale 'Königin Alexandra')
• Cirsium rivulare 'Atropurpureum'
• Echinacea paradoxa
• Leucanthemum vulgare
• Helenium 'Moerheim Beauty'
• Persicaria amplexicaulis
• Allium schoenoprasum
• Allium ampeloprasum
• Campanula latifolia (Ersatz: Camapnula latifolia var. Macrantha)
• Betonica officinalis (Ersatz: Betonica 'Hummelo')
• Verbascum nigrum
• Teucrium hircanium
• Veronica longifolia 'Marietta' (Ersatz: Veronica longifolia)
• Veronica spicata 'Glory' (Ersatz: Veronica longifolia 'First Glory')
• Salvia nemorosa 'Caradonna'
• Calamintha nepeta subsp. nepeta
• Salvia nemorosa 'Amethyst'
• Lavandula x intermedia 'Grosso’
• Teucrium chamaedrys
• Origanum vulgare
• Hylotelephium spectabile (Brilliant Group) 'Brilliant'
• Verbena hastata
• Primula vulgaris (Ersatz: Primula vulgaris 'Obsidian Yellow Light')
• Ajuga reptans 'Purple Torch'
• Helianthemum nummularium
• Waldsteinia geoides
• Anacyclus pyrethrum var. depressus
• Euphorbia amygdaloides var. robbiae
• Thymus polytrichus subsp. Britannicus (Ersatz: Thymus serpyllum)
• Helichrysum italicum
• Borago officinalis
• Symphytum officinale
• Centaurea atropurpurea
• Centaurea montana
• Potentilla fruticosa
• Echinops sphaerocephalus 'Arctic Glow'
• Allium sphaerocephalon
• Tiarella cordifolia
• Lotus germanicus (Ersatz: Anaphalis margaritacea)
• Phlomis russeliana
• Onobrychis viciifolia
• Clematis heracleifolia (Ersatz: Clematis integrifolia)
• Nepeta 'Weinheim Big Blue'
• Caryopteris x clandonensis
• Hypericum calycinum
• Artemisia lactiflora
• Cynara cardunculus 'Scolymus Group’
• Angelica archangelica
• Euphorbia seguieriana subsp. niciciana
• Euphorbia amygdaloides var. robbiae
• Primula veris
• Symphyotrichum oblongifolium 'October Skies'
• Scilla siberica
• Campanula carpatica 'Blaue Clips'
• Cichorium intybus
• Echinops ritro
• Geum rivale
• Salvia nemorosa 'Snowhill'
• Nepeta x faassenii
• Lavandula angustifolia 'Munstead'
• Lavandula angustifolia 'Hidcote'
• Sesleria autumnalis
• Sesleria caerulea
• Carex divulsa (Ersatz: Carex remota)
• Calamagrostis brachytricha
• Carex remota


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2023/08/03


Dagmar Sinn
Sommerloch


In der Zeitung kann man lesen
außer Spesen nichts gewesen.
Die Nato ist Beschluss gewillt
- für das Vier-Farben-Fotobild!

Das Heizproblem ist minder schwer,
man schiebt erschöpft es vor sich her.
Jetzt kommt die Highlight-Sommerstunde
mit Abschied in die Ferienrunde.

Die Prominenz bricht sich die Haxen,
die Schulden steigen, Zinsen wachsen,
schwanger ist die halbe Welt,
bei Porsche badet man im Geld.
Und Vegetarier hungern nur
für die geilste Strandfigur.

Flaute herrscht im Altersheim,
KI die Rettung, das muss sein.
Wir feiern jedes alte Paar,
das schwer verliebt nach hundert Jahr'.
Die Brötchen werden rund statt eckig,
die Airports sind statt sauber dreckig,
der letzte Atemzug der Bahn -
wahrscheinlich ist er schon getan.

Schluss, ich muss jetzt in den Garten.
Wasser fehlt, die Blumen warten.
Und ohne Beerenmarmelade
Wär' das Frühstück ziemlich fade.
Ich muss lachen, weil's mich freut:
die süße Saure-Gurken-Zeit!

© Dagmar Sinn, August 2023.


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2023/08/02


Blaue Hortensienhecke auf São Miguel/Azoren/Portugal


hortensien
Foto von © Dagmar Sinn, August 2017.
Blauer Himmel, blauer Ozean, blaue Hortensien. Alles Blau.


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2023/07/31


vorschau08


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2023/07/27


Dr. Hans-Albert Wulf
2. Februar 1944 - 21. April 2023
Wir vermissen dich !


albertwulf


Erinnerungen an Hans-Albert Wulf
von Hannelore Bernotat


Lieber Hans, guter Bruder,

Ich bin sehr traurig, dass wir Dich verloren haben. Da Du doch einige Jahre jünger bist als ich, habe ich nie gedacht, dass ich Dich eines Tages betrauern müsste.

Du fehlst mir sehr, unsere ausgedehnten Telefongespräche und meine häufigen Besuche bei Dir in Berlin. Hilfreicher Rat und Informationen und die vielen kleinen unterhaltsamen Geschichten aus Deinem Leben und aus der Literatur waren mir wichtig und haben mich erfreut.

Wir waren uns immer sehr nah und wegen des frühen Todes unseres Vaters und der Berufstätigkeit unserer Mutter sehr aufeinander angewiesen und ich erinnere mich gerne an unsere gemeinsamen Zeiten.

Unsere frühe Kindheit haben wir auf dem Hühnerhof verbracht, ein winziges Dorf aus zehn Häusern in einer sehr armen Gegend, nicht mal fließendes Wasser gab es dort. Als ich zur Schule kam, sind wir nach Bremen gezogen, haben aber alle Schulferien auf dem Hühnerhof bei den Großeltern verbracht. Für uns war dieses karge Dorf ein Paradies, mit der Freiheit, den Tag mit andern Kindern in Feld und Wald zu verbringen. Unsere Großeltern und unsere Tante Lis waren uns sehr wichtige Menschen, vor allem dem Opa hat Hans als Kind versucht nachzueifern.

Weniger schön war, dass wir ein Jahr im Nachbardorf in der Zwergschule verbracht haben, acht Klassen in einem Raum und ein prügelnder Lehrer.

Eines Tages schauten wir aus dem Küchenfenster auf die Hügel in der Ferne und beschlossen, herauszufinden, was sich hinter diesen Hügeln verbirgt, haben Proviant gepackt und sind einen ganzen Tag gewandert. Die Entdeckung, dass es hinter den Hügeln keine verwunschenen Burgen gab, sondern nur weitere Hügelketten, hat uns etwas enttäuscht, aber doch unseren ersten Forscherdrang befriedigt.

Eine ganz besondere Freundschaft hattest Du mit dem Karlche, dem Sohn vom Nachbarhof, etwas jünger als Du. Vor etwa 20 Jahren haben wir beide nochmal diesen Hof besucht und Karlches Schwester hat sofort ihren Bruder in einem Nachbardorf angerufen; der schwang sich mit Hund auf sein Moped und nach kurzer Weile gab es ein stürmisches Wiedersehen der beiden Kindheitsfreunde.

Hans hat lange geglaubt, dass er dauerhaft auf dem Hühnerhof glücklicher gewesen wäre, aber später hat er doch zugegeben, dass für ihn nur eine Großstadt mit Bibliotheken und einem großen kulturellen Angebot in Frage kam, eben Berlin.

Als Du endlich lesen konntest hast Du immer wieder das Buch "Elf Jungens und ein Fußball" gelesen, sonst nichts. Unsere Mutter hat sich um Deine intellektuelle Entwicklung gesorgt, aber dann bist Du gleich zu Hesse, Nietzsche und Dostojewski übergegangen. Deine großen Helden waren immer Dostojewski, Don Quijote und Beethoven. An Beethovens Geburtstag hast du dich geweigert, zur Schule zu gehen, der Tag war ganz der Musik gewidmet. Als wir mit dem Studium anfingen, sind wir beide per Anhalter in einem furchtbar heißen August nach Wien gefahren, um die zahlreichen Wohnungen Beethovens anzusehen, aber nicht alle haben wir gefunden.

Mit neun Jahren hast Du Geigenunterricht bekommen. Auf dem Weg zum Unterricht mit der Geige unterm Arm, bist Du mit einem alten Herrn, Herrn Habek, ins Gespräch über Musik gekommen. Er lebte in einem nahen Altersheim, wo Du ihn öfter besucht hast und es entwickelte sich eine Freundschaft, ein Ersatz für den Hühnerhofer Opa. Herrn Habeck hast Du zu Deinen Kindergeburtstagen eingeladen. Wir haben mit ihm Mikado gespielt, nichts für alte zittrige Hände.

Später bist Du nachts durchs Kellerfenster gestiegen und hast an einem nahen Bahnübergang dem Bahnwärter auf der Geige vorgespielt. Nach Deiner Erzählung wurde der dann müde und Du hast die Schranken rauf und runter gedreht. Ich bin nicht so sicher, ob er Dir wirklich die Schranken überlassen hat, auf jeden Fall kam die Geschichte ans Licht, weil Du beim Frühstück nach solchen Nächten immer eingeschlafen bist.

Überhaupt waren maßlos übertriebene Geschichten eine Hans-Spezialität.

Etwa vor zwanzig Jahren haben wir, Hans, Walter, ich und einige Freunde eine Reise nach Libyen unternommen. Hans hat die Reise mit den Tuareg und ihren Kamelen sehr genossen. Am Ende unserer Kameltour wurde uns das Wasser knapp und dann fand Hans beim Stöbern in einer Felsspalte ein Wasserloch, das die Tuareg nicht kannten. Dies Guelta wurde dann nach ihm benannt: Guelta Hans, das hat ihn ungemein gefreut und er hat lange von dieser Reise gezehrt.

Lieber Hans-Albert, ich denke, dass deine späte Leidenschaft, Bücher über Faulheit oder Teufel zu schreiben dein Leben sehr bereichert hat. Aber Dein größtes Glück war, dass Du Anke gefunden hast, dass Ihr so viele gute Jahre zusammen hattet.

© Hannelore Bernotat, Juli 2023.


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2023/07/24


Dagmar Sinn
Kein Personal


Von der Wiege bis zur Bahre -
Personal ist Mangelware.
Wohin man auch die Schritte wendet,
die Suche ist alsbald beendet:
die gute Zeit, sie war einmal,
denn überall fehlt Personal.

Schon lange vor der Pandemie,
Dienstleister, ja, die gab's fast nie.
Und jene, welche gern geblieben,
mit wenig Lohn man hat vertrieben.

Im Kaufhaus und im Supermarkt
vergebens man sie um sich schart,
und an der Kasse braucht's Geduld -
wer ist an der Misere schuld?

Kinos, Restaurants, die schließen,
in Park und Friedhof Blumen gießen?
Also, das ist ausgeschlossen -
nur einmal jährlich wird gegossen.

Für ein Ticket bei der Bahn
steht man gefühlt 2 Stunden an.
Termin beim Facharzt? Bitte sehr,
in diesem Jahr geht garnichts mehr.

Auf dem Amt hat man die Wahl:
Urlaub, krank - ein andres Mal.
Das gleiche Spiel auch auf der Bank.
Kaum ein Termin frei, vielen Dank!
Im Knast, da häufen sich die Fälle,
kein Personal, so auf die Schnelle.

Und steh' ich einst vor Petrus' Tür,
dann frag ich mich, was soll ich hier.
Denn ich hör' den Klageton
und was mir blüht, das weiß ich schon...

Wie war's in Deutschland doch vordem
mit Personal so angenehm!

© Dagmar Sinn, Juli 2023.


personal
Foto von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/07/21


Küchenstillleben


kuechenstillleben
Foto von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/07/18

www.kuhlewampe.net
Der Blog der Wokeness
Stay Woke ! Bleibe wachsam !
Für ein Richtiges Bewusstsein im Falschen


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2023/07/14


Bilder vom Karneval der Kulturen 2023 in Berlin Kreuzberg

Fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold, 28. Mai 2023.


In den Jahren der Corona-Pandemie 2020, 2021 und 2022 fand der Karneval der Kulturen nicht statt wegen der hohen Ansteckungsgefahr.
Aber dieses Jahr gab es wieder ein volles Programm.
49 Gruppen mit Menschen aus Deutschland und aus aller Welt waren am Umzug beteiligt, weit über 100.000 Besucher kamen an die Umzugsstrecke vom U-Bahnhof Gneisenaustraße zum Hermannplatz.
Es war strahlend blauer Himmel, Sonnenschein und 22 Grad, ideales Wetter für den Umzug.
Das war ein starkes Zeichen gegen Rassismus und gegen die Rechten, die alle Ausländer am liebsten abschieben möchten. Folklore mit politischem Anspruch.
Der Umzug in Kreuzberg war schön multikulti, aber mir war es doch schon zu voll, zu viel gefährliches Gedränge der Besucher, weil natürlich alle etwas sehen wollten, unglaubliche Menschenmassen auf engem Raum am Rand der Straße.


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2023/07/10


Wolfgang Weber
Dramolett vom Wedding


dramatis personae, in der Reihenfolge ihres erstmaligen Auftretens:
• The Mighty Wolf, Wedding
• Jasmin Gänsefuß, Charlottenburg
• Chris Wulffert, Wilmersdorf
• Pete Connelly, Schöneberg
• Fritz Schryhals vom Boulevard
• Mike Zee für Zehlendorf
• Fred M für Marzahn
• Mike R&B, aus'm Rollbergviertel
• Petra Licht, Lichtenberg
• Hendrik van Grootjeweegen, Den Haag
• Baron von Münchhausen & Entenhagen

In medias res

The Mighty Wolf, Autor aus'm Wedding, Pseudonym & Erzähler:
Habe nun ach, ewig lange nichts vom Wedding gebracht, ließ ihn liegen, links, rechts, in der Mitte. Höchste Zeit, das zu ändern. Warum nur finden ihn viele so hässlich?

Jasmin Gänsefuß, Sekretärin an der Volkshochschule Charlottendorf & Wilmersburg. Also, war erst einmal da, aber was ich so höre:
MESSER ! DROGEN ! ALKOHOL ! KAMPFHUNDE ! SPIELHÖLLEN ! SCHLIMM ! SCHLIMM !

The Mighty Wolf: da hamma Grund nummero eins, die kennt den Wedding rein gar nicht, war noch nie so richtig da, SCHLIMM ! SCHLIMM !

Chris Wulffert mischt sich ein: Bin Eure Wilmersdorfer Witwe, wollte mal wieder heiraten & zwar im Wedding, das heißt auf Englisch Heirat, auf Französisch mariage, dazu braucht es Courage.

Viel Andrang im Hochzeitsgarten, da heißt es warten. Wir hatten zwar einen Termin, aber Rolf, mein Neuer & ich, wir haben den Saal nicht gefunden, welch ein Irrgarten. der Wedding ist ja so unglaublich groß, schon ohne Gesundbrunnen. Wir haben uns in diesem Labyrinth total verlaufen. Nu feiern wa anderswo.

Update 22.02.2022, da war doch was, im Supermarkt Wedding wurde gefilmt, der Markt war zu. Da hätte Chris Wulffert, die vielfache Witwe zum ich weiß nicht wievielten Mal heiraten können, allein bis nach Wilmersdorf hat es sich nicht herumgesprochen.

The Mighty Wolf: ja dit is Grund nummero zwo, der Wedding ist gigantisch groß, immer im Kommen & Gehen, da kannste Deine Uhr nach stellen.

Pete Connelly aus'm Schönen Berg: Inna Zeitung steht immer wieda: Gewalttätige Zwischenfälle. Selbst im East End London habick sowat nich' jesehn. Hier habick Angst, abends zu Fuß zu jehn.

The Mighty Wolf: Grund nummero drei, Jewalt jeballt. Jenau betrachtet sind et imma wieda dieselben Zwischenfälle, um die et jeht, extrem, jewiss, aba sensationslüstern aufjebauscht bis zum jehtnichmehr. Der Wedding is keineswegs die Bronx von Balin. Kein Problem abends zu Fuß, es sei, Du verirrst Dich in Großbaustellen zu später Stunde.

Fritz Schryhals tritt nun auf den Plan, Zeitungsreporter für & vom Boulevard: Dies ist ein Problemkiez. Er ist prob-le-ma-tisch. Das größte Problem ist, dass es massive Probleme gibt mit den ganzen Problemen.

The Mighty Wolf: Der Problemkiez scheint ein enger Verwandter des Problembären zu sein.

Fritz Schryhals vom Boulevard weiß von: siebzig Nationalitäten im Kiez, täglich würden es mehr. Christ Moslem Jude Atheist deutsch französisch türkisch schwäbisch arabisch kroatisch bayerisch finnisch, sogar Künstler

The Mighty Wolf: Problem Kiez Eisberg Gletscher Vulkan, etwas brodelt unter der Oberfläche, schlechtes Image

Wechsel der Perspektive:
spontanes Treffen der Rapper Biker Hitchhiker Radler Quatscher Salbader Storyteller


Auch im einst so braven und beschaulichen Zehlendorf gibt's Gängsta Räp, Frust rauslassen, vierzehn, sechzehn, achtzehn, zwanzig, zweiundzwanzig, nur nichts passen

Mike Zee aus Zehlendorf reimt so:
an der Krummen Lanke
ist so viel Gestanke
Krach an der Tanke
hinter der Bahnhofsschranke

währenddessen bei Oma Langanke
lauter schaurige Gesanke
zum Zaubertranke

The Mighty Wolf:
Exactement
genauso isses
an der wunderschönen Panke

im Grunde
liegt alles Runde
am Hunde

Herr & Frauchen
treiben ihn an
schnell schnell

oh mann oh frau da passiert es dann

Fred M für Marzahn
Icke hecke gerade etwas aus, verstecke mich hinterm Hochhaus, gibt ja so viele hier.
Schau was geht, was kommt, was hüpft, was tanzt.

Treff' gleich mein' Kumpel Mike R&B, nicht mehr Mike 4, märkisches Viertel, seit er umgezogen ist, sondern R&B, Rollberg. Wir spielen in 'ner Band, freestyle, die Leute wollen andauernd wissen, wattnditte, na freestyle halt.

The Mighty Wolf:
auf den Bühnen fragen sie oft: Gedicht, Ballade, Prosa, Roman, Gebrauchsanweisung zum Aufstand, Protokoll, Aphorismus? Gattung, Stil, nix da, rhythmische Texte

Mike R&B:
Schau zum Himmel, Sternengewimmel, im Sternbild Schimmel. Bin Vollmond gewohnt, der ist bewohnt. Singe laut & schrill, mit viel feeling, mein Organ ist rau wie Kabeljau im Stau, kratzt im Hals, wenn ich sing. Diagnose: Falsche Gesangstechnik.

Petra Licht:
aus Lichtenberg, kleine Schwester des geheimnisvollen PeterLicht, ein Wort, P&L groß. Der zeigt sich nicht, Performer, Autor, man sieht ihn nicht. & sie Petra Licht, ganz viele Gleise am Bahnhof Lichtenberg. Zu einem Text hat es nicht gereicht.

The Mighty Wolf:
Kennick vom Wedding: Umfrage für eine Zeitung: Was willste werden, wenn de mal groß bist?
GESUND ! BRUNNEN ! CENTER !

Komme zurück in' Wedding, Berlin 65, bin aber schon ewig lange da. So hässlich isser nu' auch wieder nich, der Wedding,

findet jedenfalls Marketing Spezialist Henrik van Grootjeweegen aus Den Haag (CH):
Da müsste was zu machen sein, der Wedding ist cool, er ist hot, er ist soft, er ist glatt, er ist hip, er ist unglaublich weiblich & zugleich maskulin. Wedding Version 2022, neu gestylt & konzipiert

The Mighty Wolf: Stromlinienförmig, nein danke, dit kann jeder, so isser nich' der Wedding. Ecken & Kanten, direktemang aus der Lamäng, unbequem, so kenn' wir ihn

Grün, reichlich Parks, blau, Flüsse, Kanäle, Seen. Verkehr, raus, rein, hindurch: Bahn, Bus, Rad, zu Fuß, Auto, Roller.

Lesen & Schreiben für den Wedding & Anderswo, na klar.

Besonders zum Dank verpflichtet bin ich: Baron von Münchhausen & Entenhagen für die kleinen & großen Übertreibungen: The Mighty Wolf.

© Wolfgang Weber, Juli 2023.
Textbar 07.05.2012, Thema: Ist doch nicht hässlich.


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2023/07/06


Tagebuch 1973, Teil 67: Singapur

von Dr. Christian G. Pätzold


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Der lachende Buddha im Tiger Balm Garden Singapore.
Quelle: Internet.


14. Dezember 1973, Singapur, Freitag

Morgens ist mir beim Frühstück ein Zahninlay rausgefallen, das ein Zahnarzt für 10 Singapore-Dollar wieder reinzementiert hat. Wir haben mittags leckere Krabben und eine leckere Suppe gegessen.

Anschließend haben wir den Tiger Balm Garden besucht, in dem bunte wüste Fantasiewelten und Figuren Buddhas und chinesische Mythologie zu besichtigen waren. Tiger Balm war eine bekannte medizinische Salbe, die äußerlich angewendet wurde gegen Schmerzen in Muskeln und Gelenken. Die chinesischen Inhaber des florierenden Unternehmens ließen den Garten in den 1930er Jahren erbauen. Der Garten ist besonders wegen seiner über 1.000 Statuen bekannt, die chinesische Legenden und Folklore darstellen. Aus welchem Material die Figuren modelliert waren, konnte ich nicht herausfinden. Der Tiger Balm Garden hatte den Charakter eines orientalischen Disneylands.
(Anmerkung Juli 2023: Der Tiger Balm Garden in Singapore existiert immer noch. Der Garten wurde zwischenzeitlich auch Haw Par Villa genannt.)

Abends waren wir beim chinesischen YMCA, wo wir einen Spielfilm mit dem US-amerikanischen Komiker Jerry Lewis im Fernsehen Malaysia angeschaut haben.


15. Dezember 1973, Singapur, Sonnabend

Wir sind zur University of Singapore gefahren, um mit Leuten zu reden. Dort erfuhren wir, dass sozialistische Agitation und Propaganda im Sinne der Kommunistischen Partei Chinas von der Regierung in Singapur strikt verfolgt wurde. Kommunisten und fortschrittliche Kräfte würden ohne Prozess unter einem Spezialgesetz inhaftiert. Heute stand in der Zeitung, dass ein Mann nach 11 Jahren Haft freigelassen wurde, er dürfe sich aber nicht politisch betätigen. Ein Student sagte uns, dass sein Bruder 4 Jahre im Gefängnis gesessen habe. Gesprächsthemen waren das Verbot von langen Haaren und die Schließung von Diskotheken als Anti-Rauschgiftmaßnahme. Die Einkommen in Singapur schienen nicht sehr hoch zu sein. Malaysische Industriearbeiter bekämen höchstens 200 Singapore-Doller im Monat. Eine Mittelklassefamilie, in der beide arbeiteten, verdiene 500 bis 800 Dollar.


16. Dezember 1973, Singapur, Sonntag

Wir hatten überlegt, mit dem Schiff nach Jakarta in Indonesien zu fahren. Dazu haben wir die Verbindungen und Preise von ein paar Schifffahrtsgesellschaften gecheckt. Wir haben uns aber dann entschieden, via Malaysia nach Thailand weiterzureisen.

Singapur war eine große moderne Geschäftsstadt, Industriestadt und Hafenstadt, in der die Menschen relativ unterkühlt und weit weniger kontaktfreudig zu sein schienen als in Süd-Asien.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2023.


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2023/07/02


Tagebuch 1973, Teil 66: Colombo - Singapur

von Dr. Christian G. Pätzold


Wenn man aus der Ferne berichtet, muss man besonders sorgfältig sein, um nicht Falschmeldungen über ferne Länder und ihre Menschen zu verbreiten.


11. Dezember 1973, Colombo - Singapur, Dienstag

Morgens haben wir uns in Colombo von Dudley Ball und Bala Tampoe verabschiedet. Im Galle Face Hotel haben wir auf den BOAC-Bus gewartet, der ziemlich leer zum Flughafen gefahren ist. Die Ausreise war problemlos, es gab keinerlei Zollkontrolle. Wir saßen in einem großen Flugzeug mit einem Steward und 2 Stewardessen und bekamen Essen. Der Flug von Colombo nach Singapore hat nur 3½ Stunden über den Indischen Ozean gedauert.

Ausgaben in Sri Lanka
75 DM in 10 Tagen (2.12.1973 - 11.12.1973)

Wir waren schließlich in Singapur gelandet und damit schon fast am Äquator.
Im Singapore Airport gab es keinerlei Zollkontrolle, aber meine langen Haare wurden beanstandet: "Your hair is too long for Singapore!" Das war ja eine freundliche Begrüßung! Schon seit meiner Kindheit habe ich Friseur:innen nicht gemocht. Jedenfalls war erstmal Haare schneiden fällig. Ich war darauf schon vorbereitet, denn unter Reisenden war allgemein bekannt, dass Singapur keine langen Haare bei Männern duldete. Damit wollte man wohl der dekadenten Hippiekultur des Westens entgegenwirken. Die Haarspitzen durften jedenfalls nicht den Hemdkragen berühren. Also ließ ich mir schweren Herzens die Haare kürzen und sah danach etwas albern aus. Das Haare schneiden betraf nur Männer, Frauen durften lange Haare haben. Vielleicht hatte der Herrscher von Singapur einen schwachen Haarwuchs und war neidisch auf Männer mit langen Haaren. Der strenge Alleinherrscher in Singapur war ein Chinese und hieß Lee Kuan Yew. Tatsächlich war Singapur das einzige Land auf der ganzen Welt, das Haarvorschriften bei der Einreise hatte. Die Behörden in Singapur galten als sehr streng. Es hieß, wenn man einen Kaugummi auf den Bürgersteig spuckte, wurde man in Singapur ins Gefängnis gesteckt. Letztlich war es nicht so schlimm, denn meine Haare sind schnell nachgewachsen. Jedenfalls war das Haare schneiden am Singapore Airport der 8. kritische Moment auf meiner Weltreise.

Im Flughafen habe ich Geld gewechselt, der Wechselkurs war 100,- DM = 88 Singapore-Dollar. (Es ist erstaunlich, dass heute 50 Jahre später, der Wechselkurs fast der gleiche ist). Dann sind wir mit dem Bus in die Stadt gefahren. In dem Bus saßen nur Chinesen und Chinesinnen, so viele Chinesen hatte ich bisher noch nie auf einmal gesehen. Im Tai Hoe Hotel haben wir ein Zimmer für 12 Singapore-Dollar gefunden.

Singapur ist ein Stadtstaat auf einer Insel, nur wenige Kilometer nördlich vom Äquator. In Singapur gab es vor allem 3 Bevölkerungsgruppen: eine Mehrheit Chinesen, außerdem Malaien und Inder. Wegen der englischen Kolonialvergangenheit (Singapur war von 1867 bis 1963 eine englische Kolonie) war die englische Sprache in Singapur noch weit verbreitet. Singapur ist ein Wort der indischen Sanskrit-Sprache. Singa bedeute Löwe und Pura bedeutet Stadt. Singapur bedeutet also Löwenstadt (obwohl es dort nie Löwen gab).

Obwohl wir in den Tropen waren, machte Singapur einen modernen, fast europäischen Eindruck, was auch an der modernen Architektur der Gebäude lag. In Singapur gab es hohe Wohnblocks im modernen Stil, um die Bevölkerung mit Wohnraum zu versorgen. Das war ein starker Kontrast zu Süd-Asien, durch das wir vorher ein paar Monate gereist waren. Persien, Afghanistan, Pakistan, Indien und Sri Lanka hatten noch viel eher das traditionelle Aussehen der Dritten Welt.

(Anmerkung Juli 2023: Das Staatliche Wohnungsbauprogramm in Singapur wurde berühmt. Die Wohnungsbaubehörde Housing & Development Board (HDB) war schon 1960 gegründet worden. Sie baute viele preiswerte Wohnungen, die den Mietern zum Kauf über günstige Kreditprogramme angeboten wurden, so dass sie sie über die Jahre abzahlen konnten. Dadurch erreichte die Wohneigentumsquote in Singapur erstaunliche 80 %. In Deutschland dagegen können sich die Mieter und Mieterinnen über Jahrzehnte dumm und dämlich zahlen und werden doch nie Eigentümer ihrer Wohnung.)


12. Dezember 1973, Singapur, Mittwoch

Morgens sind wir zur Deutschen Botschaft in der 360 Orchard Road gegangen und haben unsere Briefe abgeholt. Das war ein guter Service der Deutschen Botschaft. Man konnte sich Briefe an die Botschaft schicken lassen, die dort lagerten, bis man dorthin gereist war und sie abholte. Das nannte sich Poste Restante. Ansonsten war das deutsche Botschaftspersonal mal wieder rotzunfreundlich, man war zwar tausende Kilometer von Deutschland entfernt, aber die deutschen Beamten änderten sich nicht. Ich habe meine Briefe gelesen.

In der Nähe des Botanischen Gartens habe ich meine erste echte chinesische Nudelsuppe gegessen. Sie schmeckte fantastisch, ganz anders als alles, was ich vorher gegessen hatte. Vielleicht lag es an den tropischen Gewürzen oder an den Meeresfrüchten. Natürlich gab es auch Essstäbchen. In Singapur war man ja fast schon in China.

Danach waren wir im Botanischen Garten von Singapur. Er war weltweit berühmt für seine große Orchideensammlung. Dort gingen auch Liebespärchen spazieren.

(Anmerkung Juli 2023: Der Botanische Garten, Singapore Botanic Gardens genannt, ist ein großer tropischer Botanischer Garten mit internationalen wissenschaftlichen Verbindungen. Er wurde im 19. Jahrhundert von Engländern und Schotten begründet, die dort zunächst mit den Nutzpflanzen Kakao, Muskat und Kautschuk experimentierten. Heute ist der Botanische Garten von Singapore tatsächlich der meistbesuchte botanische Garten der Welt, der übrigens keinen Eintritt kostet und von der Bevölkerung auch zur Erholung genutzt wird, bspw. für chinesische Morgengymnastik. Ein sehr guter Botanischer Garten sollte wissenschaftlich arbeiten, also die Pflanzenwelt erforschen, präsentieren und bewahren, und daher entsprechend groß und Teil einer Universität sein. Dazu gehört einiges, ein großes Herbarium, eine wissenschaftliche Bibliothek, Labore, ein Botanisches Museum, Gewächshäuser, ein Arboretum, etc. etc. Und zahlreiche Wissenschaftler:innen und Gärtner:innen. Aber seine Wege und Flächen sollten, bspw. als Liegewiese, auch kostenlos für die Bevölkerung offen stehen. Auch ein gutes Café oder Teehaus und ein gutes Restaurant im Garten sind empfehlenswert.)


13. Dezember 1973, Singapur, Donnerstag

Es gab täglich starke Monsunschauer und auch Nieselregen. In einem Wohngebiet sind wir auf eine Chinese Street Opera getroffen. Die kleine Bühne war auf der Straße aufgebaut, die chinesischen Sänger waren in traditionelle Kostüme gekleidet. Die Bühne war vor allem von Kindern des Viertels umringt.

Danach sind wir durch den People's Park Complex gegangen und haben Geschäfte angeschaut. Der People's Park Complex war ein Gebäudekomplex, der gerade 1973 vollendet worden war und 78.000 Quadratmeter Nutzfläche umfasste. In den unteren Etagen befand sich das erste Shopping Center, das in Südost-Asien eröffnete. Darüber befand sich ein 103 Meter hohes Hochhaus mit 31 Etagen, in dem es Büros und Wohnungen gab. Die gesamte Architektur des Komplexes basierte auf den modernen Ideen von Le Corbusier über das Wohnen und Leben in Hochhäusern. So wurden Wohnen, Arbeiten und Einkaufen an einem Ort miteinander verbunden, es gab auch einen Kindergarten und auch Raum zur Erholung auf der Dachterrasse.

Das ganze Spektrum der westlichen Konsumgüter gab es hier zu kaufen. Besonders auffällig waren die allgegenwärtigen Weihnachtsreklamen, überall künstlicher Schnee und Weihnachtsmänner, obwohl es hier in den Tropen gar keinen Schnee gab und die Christen eine kleine Minderheit waren. Weihnachten musste für die Chinesen ziemlich exotisch sein und wurde einfach radikal als Konsumanreiz genutzt. Bei den warmen Temperaturen in den Tropen hatte ich vollkommen vergessen, dass es Mitte Dezember und bald Weihnachten war. Wenn die Weihnachtsreklamen nicht gewesen wären, wäre mir Weihnachten nicht eingefallen

Einige Preise an Straßenständen: Obst auf der Straße kostete 10 Cent pro Stück. Eine Ananas 20 bis 30 Cents. Mandarinen 5 bis 40 Cents. Getränke kosteten 20 bis 50 Cent. Sehr guter Tee 25 Cents. 1 Schale Reis 20 Cents. Chinesische Nudelsuppen mit Einlage kosteten 70 Cent bis 1 Singapur-Dollar. Reis mit etwas Hühnchen 1 Dollar. Schälchen Gemüse 20 Cents.

© Dr. Christian G. Pätzold, Juli 2023.


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Der Autor mit kurzen Haaren, Essstäbchen und chinesischer Nudelsuppe
in Singapur, 12. 12. 1973.


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2023/07/01


eisler


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2023/06/30


vorschau07


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2023/06/28


Abendstimmung in Trastevere


trastevere
Foto von © Dagmar Sinn, 11. Mai 2023, 18:18.


"Trastevere - jenseits des Tiber - ist ein bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebtes Viertel Roms. Es hat etwas vom Charme vergangener Zeiten bewahrt. Das Foto entstand am frühen Abend in der Nähe der Piazza di Santa Maria."


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2023/06/26


Sabine Rahe
Wir waren...


Wir waren Jäger, Hirten, Zimmerleute und Bäuerinnen.
Wir waren Fischer, Boten, Wäscherinnen und Mägde.
Wir waren Bettler, Köche, Melker, Köhler, Stahlkocher,
Torfstecher, Weber, Tagelöhner, Matrosen
und tranken durstig den Krug
mit Wasser in einem Zug.
Man hat uns im Krieg
und im Frieden geschunden
und ebenso wenig geschont
wie das Vieh.
Wir bauten die Tempel, die Gräber und Paläste,
aber unsere Namen sind getilgt.


© Sabine Rahe, Juni 2023.


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2023/06/24


dr. christian g. pätzold
maloche


maloche ist ein jiddisches wort
und bedeutet schwere körperliche arbeit
das problem mit der maloche ist
dass sie oft nicht da ist
wenn du geld brauchst
oder dass du etwas arbeiten musst
was nicht pc ist
oder dass du vollidioten, choleriker und intriganten als vorgesetzte hast
oder dass du ausgequetscht wirst
wie eine zitrone
um den extra-profit zu erhöhen
dann bist du so müde
dass du den rest des tages brauchst
um dich für den nächsten arbeitstag zu regenerieren
knochenjob
rabotten rabotten
hetze und stress
optimierte arbeitsabläufe
für ein leben bleibt keine zeit mehr
hier hast du keine luft zum atmen
die wahrscheinlichkeit ist groß
dass du als prekärer minijobber endest
in dieser gesellschaft wird es nichts
mit der sinnvollen arbeit
außer ihr schreibt politische gedichte
liebe malocher und malocherinnen
liebe proletarier und proletarierinnen
avanti popolo
alla riscossa
bandiera rossa trionfera!


© dr. christian g. pätzold, juni 2023.
(nicht von chat gpt oder ki geschrieben)


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2023/06/21


Wolfgang Weber
malochen malochen


malochen
malochen

sag mir
was ist
malochen

schuften
von früh bis spat
am liebsten würden
manche verduften

malochen
verbreitet
im bergbau
lange schichten
untertage

malochen
malochen

kochen mit
& ohne knochen
ist das auch
malochen

malochen
malochen

da werden
leute ausgebeutet
bei geringem lohn
langen arbeitszeiten
schlechten bedingungen

malochen
malochen

körperlich harte
arbeit
in praller sonne
ja das ist
malochen

texte schreiben
zu themen
die sich
jemand anders
ausgedacht

ist das auch
malochen

nicht unbedingt

manche themen
für mich
nur schwer
zu bewältigen

für andere
ein klax
& umgekehrt

aber
es macht
auch spaß

meistens

sich einer
herausforderung
zu stellen
nix für die
schnellen

über sich
hinaus
zu
wachsen

das ist kein malochen

malochen
malochen

sag mir
noch
ein
mal
was ist
malochen

malochen
malochen

fremdbestimmte
arbeit
unter
schlechten
bedingungen

malochen
malochen

das ist
malochen

versprochen


© Wolfgang Weber, Juni 2023.
poetenoffensive, 19.03.2023.


II. malochen, Materialsammlung

II.a. https://www.openthesaurus.de/synonyme

hart arbeiten (Hauptform) • arbeiten wie ein Pferd • bis zur Erschöpfung arbeiten • (sich) in die Sielen legen (veraltet) • (sich) (mächtig) ins Geschirr legen • (sich) (mächtig) ins Zeug legen • rackern • schwer arbeiten • viel arbeiten • werken • (sich) abfretten (ugs., süddt.) • ackern (ugs.) • ackern wie ein Hafenkuli (ugs.) • ackern wie 'ne Hafendirne (ugs.) • (schwer) am Wirken sein (ugs., regional) • (sich) fretten (ugs.) • hackeln (ugs., österr.) • keulen (ugs., regional, ruhrdt.) • malochen (ugs.) • nicht kleckern, sondern klotzen (ugs.) • plockern (ugs., regional) • rabotten (regional, teilw. veraltet) (ugs.) • ranklotzen (ugs.) • reinhauen (ugs.) • reinklotzen (ugs.) • roboten (ugs.) • rödeln (ugs.) • schaffe, schaffe, Häusle baue (ugs., Spruch, schwäbisch) • schuften (ugs.) • schwer zugange sein (ugs., ruhrdt.) • werkeln (ugs.) • wullachen (ugs., ruhrdt.) • wullacken (ugs., ruhrdt.)
Oberbegriffe: arbeiten • aktiv sein • (sich) betätigen (als)
Unterbegriffe: (sich) überarbeiten • zu viel arbeiten • (sich) kaputtarbeiten (ugs.)
Assoziationen: Gepäckträger (z.B. am Bahnhof) • Kuli • Lastenträger • ... harte körperliche Arbeit • Kärrnerarbeit • Knochenarbeit • ... (sich) abarbeiten • (sich) abmühen • (sich) abplagen


II.b. https://de.wikipedia.org/wiki/Maloche

Maloche bezeichnet umgangssprachlich „schwere Arbeit“. Das Wort geht auf hebräisch mela(')?a(h) – meläkä, „Arbeit“, in aschkenasischer Aussprache malocho, zurück. Wie viele andere Jiddismen fand es über das Westjiddische sowie das Rotwelsche, wo es seit dem 18. Jahrhundert bezeugt ist, Eingang in die deutsche Umgangssprache.
Der große Duden nahm den Begriff Maloche 1987 auf und definierte seine Verwendung als salopp für „[schwere] Arbeit“. Nach Hans Peter Althaus ist im Rotwelschen Meloche, Melouche, Maloche, Maloge zwischen 1822 und 1922 für „Arbeit, Beschäftigung, Gewerbe, Handwerk“ verwendet worden, das entsprechende Verb ist schon seit 1750 nachzuweisen und bedeutete „arbeiten, machen, tun, verfertigen, schreiben“. Im Südhessischen Wörterbuch wurden die Verbformen melochen, melachen, malochen als „schwer arbeiten, schuften“ definiert; ein Melochem als jemanden, der niedrige Arbeiten verrichtet. Hermann Fischer bezog sich in seinem Schwäbischen Wörterbuch auf die Gaunersprache und nannte als weitere Bedeutungen „Plünderung“ und „Schikanierung“. Andere Quellen, die eher von einer jiddischen Herkunft ausgehen, bezeichnen beispielsweise den Handwerksburschen als Melochestift. In Thüringen stand 1786 Melooche für „Verwirrung“, im Rheinland wurde Malochem für „schwere Arbeit“, aber auch „Unglück, Pech“ als Übernahme aus der Sprache der Juden belegt. Die Verwendung für „Kunstgriff“ im Brandenburgisch-Berlinischen Wörterbuch von 1980 ist nach Althaus dagegen nicht eindeutig belegt.
Die Bedeutung für harten Körpereinsatz wurde unter anderem durch oberschlesische Bergarbeiter, die den Begriff von polnischen Juden übernommen hatten, in den Kohleabbaugebieten des Ruhrgebiets verbreitet. So wird der Begriff heute vor allem als typisches Wort des Ruhrdeutschen wahrgenommen.

Sport
Im Fußball gibt es einige Vereine, welche sich aufgrund ihrer Geschichte und Vereinsidentität als Malocher-Clubs sehen. Häufig sind das Vereine, die vom Bergbau geprägt wurden wie zum Beispiel der FC Schalke 04 oder der polnische Verein Zagłębie Lubin.


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2023/06/18


Karl Hagemeister, 1848 - 1933
Auf Wellen herabstoßende Bö, 1915


hagemeister
Bröhan-Museum, Berlin. Foto: Rainer Jordan.


Ausstellung im Bröhan-Museum in Berlin Charlottenburg bis 30 Juli 2023

»Das Ende der Malerei. Karl Hagemeister und die Malerei heute«


Das Bröhan-Museum schreibt über die Ausstellung:

"1923 richtet Ludwig Justi, der Direktor der Berliner Nationalgalerie, Karl Hagemeister eine große Ausstellung zu seinem 75. Geburtstag aus. Den Schwerpunkt legte Justi auf das Spätwerk, die Wellenbilder. Anlässlich dieser Ausstellung sprach Hagemeister vom "Ende der Malerei", das er mit seinen Wellenbildern erreicht hätte.

Ausgehend von den Wellenbildern Hagemeisters richtet das Bröhan-Museum den Blick nach vorne, ins 20. und 21. Jahrhundert: Die Präsentation umfasst malerische, zeichnerische sowie skulpturale und konzeptionelle Ansätze von 18 Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart. Durch die Gegenüberstellung mit zeitgenössischen Werken, die die Malerei auf die Spitze treiben, hinterfragen oder sogar negieren, wird die Modernität des "Farbmalers" Karl Hagemeister deutlich. Gleichzeitig ermöglicht die Ausstellung einen neuen Blick auf die schier unendlichen Möglichkeiten des Mediums Malerei, immer wieder verbunden mit dem Versuch, das Ende der Malerei noch weiter auszuloten.

Beteiligte Künstlerinnen und Künstler:

Danja Akulin, Martin Borowski, Herman de Vries, Inge Dick, Ralph Fleck, Christian Frosch, Raimund Girke, Kuno Gonschior, Swaantje Güntzel, Martha Jungwirth, Nina Kluth, Susanne Knaack, Markus Linnenbrink, Sol LeWitt, Morris Louis, Erik Schmidt, Johannes Schramm und Jerry Zeniuk."


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2023/06/14


Reinhild Paarmann
Reise-Impressionen aus Indien, Teil IV


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Sonnenaufgang auf dem Ganges.
Fotografiert von Karl-Heinz Wiezorrek.


22. Februar 2023:

„Hindustan Times“: Putin schickt eine Nuklear-Warnung an die Ukraine.
Vier streunende Hunde bissen 4-jährigen Jungen tot.
Studentinnen machen einen Sitzstreik auf der Straße, um auf die schlechte Ausstattung ihrer Schule, die wenigen Lehrer, das schlechte Essen und die Qualität des Wassers und der Unterkunft aufmerksam zu machen.
Dubai: Die iranischen Mullahs preisen Hadi Matar, der Salman Rushdie um ein Auge brachte. Er bekommt dafür Land. Der Täter ist 24 Jahre alt und ein Shia-Moslem-Amerikaner aus New-Jersey.
Biden will, dass der Krieg in der Ukraine lange währt, damit Russland ökonomisch geschwächt wird.

Devi berichtet: „Ein Mädchen wurde mit neun Jahren verheiratet und bekam mit 14 Jahren ein Kind. Ein Polizist kritisierte das. Da hieb ihm der Moslem den Kopf ab, was er mit seinem Smart-Phone filmte und es bei You-Tube zeigte.
„Werden Mädchen immer noch getötet, damit man später keine Mitgift für sie zahlen muss? Es gibt einen Männer-Überschuss.“
„Ja, leider, obwohl es verboten ist. Jeder Mann will doch eine Frau. Das war vor 30, 40 Jahren.“ 2018 wurden zwei Millionen Mädchen getötet. 63 Millionen Frauen fehlten, um ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zu erreichen.
„Wir verlangten von meiner Frau keine Mitgift. Aber wir haben gesagt, sie soll ihren Schmuck mitbringen. Bei Festen legen die Frauen alle ihren Goldschmuck an. Meine Frau hat Goldschmuck von zwei Kilo. Der liegt normalerweise im Safe.
Die Eltern suchen den Ehepartner aus. Dann gehen sie zu einem Brahmanen, der die Horoskope vergleicht. Wenn die meisten Eigenschaften übereinstimmen, schickt der junge Mann ein Foto an die Auserwählte. Wenn er ihr gefällt, schaut sich der Onkel das Mädchen an.
Dann wird geheiratet. Ich habe meine Frau vor der Hochzeit nicht gesehen, habe aber die Vorgaben gemacht, sie müsse eine gute Ausbildung haben, solle kleiner sein als ich.“

Am Morgen fahren wir nach Vaishali, wo Buddha seine letzte Predigt hielt und besichtigen den Buddha-Stupa. Er enthält eine kleine Schale mit Knochenresten, Asche und verschiedenen Beigaben von Buddha.
„49 Tage nach seiner Erleuchtung war Buddha hier. Vaishali war im 5. Jh. v. Chr. die Hauptstadt der Republik der Licchavis, die erste Republik der Welt, noch vor Griechenland.“
Wir besuchen das Museum und sehen die erste Toilette, die es gab. Drei runde verbundene Holzteile um ein Loch.
Eine Ashoka-Säule steht neben dem Stupa. König Ashoka erhob nach dem Massaker von Kalinga, für das er verantwortlich war, den Buddhismus zur Staatsreligion. Auf den Säulen ließ er im Lande seine Gesetze einmeißeln. Später wurde Ashoka sehr streng und verfolgte grausam Leute, die sich nicht an seine Gesetze hielten.


23. Februar 2023:

Wir fahren nach Kushinagar, ein weiteres wichtiges buddhistisches Heiligtum. Unterwegs im Auto erzählt uns Devi: „Alte Menschen sagen, ich gehe nach Varanasi, das bedeutet, dass sie dort sterben wollen. Sie essen und trinken dort nichts mehr, bis sie tot sind. Ich weiß, dass dies nicht so einfach ist. Ein Schriftsteller-Kollege war voriges Jahr mit seiner Sekte in Varanasi. Er durfte den geheimen Platz sehen, wo diese Leute sich aufhalten. Sie werden zum Teil aggressiv. Es ist gefährlich, sich dort aufzuhalten.“

In Kesariya machen wir einen Zwischenstopp. Hier gibt es einen Stupa aus der Gupta-Zeit in Sternenform. Buddha habe dort eine Nacht verbracht und seine Bettelschale zurück gelassen.

„Zwei Dinge haben wir von den Engländern übernommen, die gut sind: das Schulsystem und die Eisenbahn. Die Eisenbahn ist der größte Arbeitgeber in Indien.“
„Gibt es Sozialarbeiter*innen, Familienhelfer*innen in Indien?“, frage ich.
„Ja, gibt es alles.“
Es gibt nur einen privaten Träger der SOS-Kinderdörfer, der Sozialarbeiter*innen einstellt.
In Kushinagar starb Buddha und ging ins Nirwana ein. Im Maha-Parinirvana Heiligtum befindet sich eine 1.500 Jahre alte Statue eines liegenden Buddha aus rotem Sandstein.
Wir besuchen das buddhistische Museum.
Nachmittags gehen wir spazieren und sehen eine Parade der thailändischen Buddhisten, die hierher gepilgert sind, mit vielen geschmückten Wagen. Rikshah-Fahrer ziehen sie.


24. Februar 2023:

Als wir morgens vom Hotel wegfahren wollen, versperrt eine lange festliche buddhistische Parade von Thailändern die Straße, angeführt von zwei geschmückten Elefanten. Auf dem letzten Wagen wird ein Foto vom thailändischen König gezeigt, der virtuell mitpilgert. Er lebt den größten Teil des Jahres in Bayern und zahlt dort keine Steuern. Nach dem Ende der Parade ist die Straße für uns frei zur Weiterfahrt nach Varanasi.

„Wir haben einige indische Filme gesehen, in denen es um Liebe geht. Wie verträgt sich das mit den arrangierten Ehen?“, will ich wissen.
„Modi sagt, dass diese Filme unrealistisch sind. Er will sie in Zukunft verbieten. – Moslems behaupten, Brahmanen würden Jungen im Tempel vergewaltigen, Brahmanen bestreiten das und behaupten, Imame würden das in ihren Koran-Schulen tun.“ Der Guide lacht.
7.200 Kinder werden täglich in Indien sexuell missbraucht, schätzte 'Human Rights Watch' 2013.
„Sind Abtreibungen erlaubt?“, frage ich.
„Ja.“
2021: Obwohl seit 1971 Abtreibungen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt sind, glauben die Frauen immer noch, dass dies eine Sünde wäre. Tausende Todesfälle entstehen durch unsichere Abtreibungen.

„Eine Leiche braucht drei Stunden, bis sie verbrannt ist. Das werden Sie in Varanasi sehen.“
„Ich habe gelesen, dass das Holz teuer ist und deshalb arme Leute die Leichen nur halb verbrennen und sie dann in den Ganges werfen.“
„Nein, Holz ist nicht so teuer. Wenn arme Leute die Beerdigung nicht bezahlen können, macht das die Regierung oder die Polizei.“
2019: Das Geld reicht oft nicht für eine Beerdigung. Dann werden die halbverbrannten Leichen in den Fluss versenkt.

Wir kommen in Varanasi am späten Nachmittag an und checken uns im Hotel „Ganges-Palace“ ein. Ich lese „The Times of India“: Ein vier Jahre altes Mädchen wurde von ihrem Cousin entführt und vergewaltigt. Als sie schrie, rannte er davon. Das Mädchen lief nach Hause. Die Eltern brachten es ins Hospital und meldeten es der Polizei.
Als ich Devi das erzähle, sagt er: „Wie alt soll das Mädchen gewesen sein? Vier Jahre? Das glaube ich nicht. Die Zeitungen übertreiben oft.“

Abends machen wir eine Bootsfahrt auf dem Ganges zum Sonnenuntergang. Wir sehen die Aarti Ceremony zu Ehren der Mutter Ganga, der Göttin der Schöpfung, ein rituelles Feueropfer.
Priester führen sie am Dashaswamedh Ghat durch mit Instrumenten, Lichtern, Singen.
„Junge Leute wühlen oft in der Asche der Verstorbenen, um Goldzähne oder Metall heraus zu fischen“, erzählt Devi.


25. Februar 2023:

Wir machen eine Stadtrundfahrt zum großen Banaras-Hindu-Universitätsgelände. „Für Studenten ist es ein Traum, hier studieren zu dürfen, aber die Aufnahmeprüfung bestehen nur wenige“, sagt der Guide. Ein Kricket- und Korbballfeld sind auch vorhanden. „Für Essen müssen die Studenten 40 Euro umgerechnet im Jahr bezahlen. „30 % der Studienplätze sind für Studenten aus den niedrigen Kasten reserviert. Das finde ich nicht gut.“
„Gibt es Unterstützung für arme Studenten?“
„Ja.“
Für ein Semester sind 200 bis 10.000 € zu entrichten. Studentenzimmer sind schnell belegt. Einige müssen sich eine Mietwohnung nehmen. Lebensmittelkosten in Höhe von 75 bis 150 € kommen im Monat dazu. Stipendien gibt es für Doktoranden, die nichts bezahlt bekommen, in Höhe von 340 USD pro Jahr, nachdem sie drei Jahre lang an ihrer Doktorarbeit gearbeitet haben.

Wir fahren am Nachmittag nach Sarnath, wo Buddha seine erste Predigt hielt und das Rad des Dharmas in Bewegung setzte. Früher war hier ein Wald mit Hirschen. Beherrscht wird das Areal der früheren Klosteranlage von dem Dhamek-Stupa.
Im Tempel singt der Guide etwas den Sanskrit-Text vor, der auf den Fußsohlen von Buddha zu erkennen ist. „Sanskrit hat die gleiche Grammatik wie das Deutsche. Darum ist Sanskrit leicht zu lernen, wenn man Deutsch kann.“

Ich lese „The Times of India“. Sonia Gokani, die Chefin eines Gerichtes, schlägt vor, die britische Formel „Euer Ehren“ bei Frauen in „Our Ladyship“ umzuwandeln. Man einigt sich auf „Sir.“

„Ich habe im Buch »Das Ministerium des äußersten Glücks« von Arundhati Roy gelesen, dass die Hijra und transsexuelle Menschen in Indien schlecht angesehen werden. Im Reiseführer stand, man soll ihnen Geld geben, weil die Inder das nicht machen. Sie sind arm. Wie werden die Hijra angesprochen? Im Hindi gibt es ja kein Neutrum.“
„So wie sie wollen“, sagt Devi und lacht.
Der Oberste Gerichtshof erkannte 2014 Hijra als 3. Geschlecht an.

Varanasi: Die Polizei hat einen Pastor verhaftet, der mit drei Frauen arme Bauernfamilien taufen wollte und ihnen dafür Lebensmittel und eine Ausbildung für ihre Kinder versprach.
Seit 2020 ist es verboten, Hindus zu Christen zu machen.
Prayagraj: In der Nacht vom 17./18.2.23 hat ein Räuber mit vier Helfern einen Bauern auf seinem Feld erschlagen. Anschließend ging er zum Haus des Opfers und raubte dort den Schmuck der Frau und Geld.
Devi: „Das glaube ich nicht. Wenn jemand einen erschlägt, rennt er weg.“


26. Februar 2023:

Um 5:30 Uhr treffen wir uns, um eine Bootsfahrt zu machen, wenn die Sonne aufgeht. Ein Trommler und ein Musikant mit drei Flöten begleiten uns.
Auf der Rückfahrt legt das Boot am Manikarnika Ghat an. Wir gehen zu einem Verbrennungsplatz, da darf man nicht fotografieren oder filmen. Eine Leiche mit weiß verbundenem Kopf liegt auf einer prächtig geschmückten Bahre. Männer mit traurigen Gesichtern stehen da.
„Warum ist keine Frau dabei?“, frage ich.
„Frauen sind heilig. Darum dürfen sie bei der Verbrennung nicht dabei sein.“
Das bezweifele ich. Ich habe gelesen, Frauen sind unrein, würden zu viel trauern, das würde die Seele an die Erde binden. Scheiterhaufen brennen.

„The Times of India“: In Meenut stürzte am Freitag das Dach eines Kühlhauses ein. Sieben Menschen starben, 30 wurden verletzt und kamen ins Hospital.
Varanasi: Ein 30,5 kg Tumor wurde aus der Niere eines 55-jährigen Mannes heraus operiert.
In der Zeitung steht: Narendra Modi spendete für Arme vom Kol Tribe Mahakumbh in Stana fünf Kilogramm Korn und versprach, für sie umsonst Toiletten bauen zu lassen.
Ich erinnere mich, wie Devi berichtete, dass Modi allen Armen Toiletten bezahle. „Es ist schwierig für eine Frau, vor der Dämmerung auf dem Feld sich zu entleeren, damit sie nicht gesehen wird. Dann muss sie den ganzen Tag aushalten und warten, bis es dunkel ist. Erst dann darf sie wieder aufs Feld gehen.“
Santiniketan: Studenten der Visva Bharati University wurden vom Verteidigungsminister Rajnath Singh am Freitag ermahnt, humanistisch wie Rabindranath Tagore zu sein, dessen Gedanken und Philosophie weiterhin die indische Gesellschaft beeinflussen. „Tagore hat uns gezeigt, wie unser Nationalismus nicht territorial sein, sondern auf einer pluralistischen Kultur basieren sollte.“

© Reinhild Paarmann, Juni 2023.


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2023/06/11


Reinhild Paarmann
Reise-Impressionen aus Indien, Teil III


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Thailändische Buddhisten.
Fotografiert von Karl-Heinz Wiezorrek.


19. Februar 2023:

Die „Hindustan Times“ wird unter der Tür in unser Zimmer geschoben.
Wang Yi aus China sagt zum Abschießen des chinesischen Ballons über Amerika: „Die Amerikaner sind hysterisch.“
Auf einer Seite ganz groß ein Foto von protestierenden Arbeitern. Die Anzeige wurde von einem sozialen Institut aufgegeben. Die Arbeiter wenden sich gegen die Schließung ihrer Kupfer-Fabrik vor fünf Jahren, in der sie 22 Jahre lang arbeiteten. Während der Covid-Zeit wurde der Betrieb vorübergehend geöffnet. Er stellte Sauerstoff her. Nun ist er wieder geschlossen. Die Arbeiter haben keinen Job und leiden.

Nachmittags besichtigen wir die Ausgrabungsstätte der buddhistischen Universität in Nalanda. Buddha besuchte in der Nähe, bevor es die Universität gab, einen Mango-Hain und predigte. Das ist in den „Reden Buddhas“ belegt. Darin heißt es: „ Einst weilte der Erhabene bei Nalanda in dem Pavarika-Mango-Hain…“
Der Besuch der Universität war kostenlos. Der König verwandte die Steuern von 20 Dörfern dafür. Studenten aus China, Tibet, Korea und Zentralasien studierten auch hier. Weil sie Abschriften von Büchern hier machten und Reiseberichte hinterließen, hat man Beweise für die Existenz der Universität, denn als sie im 12. Jh. von der Armee unter Muhammad bin Bakhtiyar Khalji, dem Vertreter des Sultanats von Delhi zerstört wurde, blieb nicht viel übrig. Drei Tage lang brannte die Bibliothek mit den 30.000 Sanskrit-Texten.“
„Was heißt Nalanda übersetzt?“
„Nalan ist die Lotosblüte, sie bedeutet ‚Reinheit geben‘. Der Standort hier wurde nicht darum gewählt, weil Buddha hier mal gepredigt hat, sondern auch, weil einer der Lieblingsschüler von Buddha hier aus der Gegend stammte. Kaiser Ashoka gründete ein Kloster. Im 5. Jh. baute Shakraditya, der zur Gupta-Dynastie gehörte, mit einem Kloster die Universität.
Man konnte hier die sechs buddhistischen Schulen und Philosophie, Grammatik, Logik, Metaphysik, Medizin, Prosa, Rhetorik, Mathematik und Recht studieren. Aber nur Männer. 10.000 Studenten waren auf dem 10 km großen Areal. Nur 30 % wurden bisher ausgegraben am Anfang des 20. Jh. von englische Archäologen. Ein Teil liegt unter einem Dorf in der Nähe.“
Chinesische Quellen berichten von neun Klöstern. Archäologen bezweifeln das.
„Schauen Sie hier den Spiegelstein.“ Es ist Glimmerschiefer. „Da sind Löcher drin. Stäbe hielten Stöcke, auf denen runde Spiegelplatten befestigt waren. Wenn morgens die Sonne aufging, dann reflektierte sie das Licht und warf es auf eine Buddha-Statue. Die Buddha-Statue wurde nicht angebetet. Der Stupa war es, der verehrt wurde.“

Wir fahren nach Rajgir zum Venu Vana Park, d.h. Bambushain, dem Meditationsplatz von Buddha. „Die Leute, die im Wald wohnen, schlagen ein Stück Bambus ab, stopfen unten Reis rein, dann das übrige Essen und kochen es über dem Feuer.“
„Verbrennt dann nicht das Bambus?“
„Nein, es ist ganz dick.“

Auf der Weiterfahrt halten wir an der Gedenkstätte von Dashrath Manjhi, dessen Frau starb, weil er 50 Kilometer um einen Berg wandern musste, um einen Arzt zu erreichen. Als er zurückkam, begann er 22 Jahre lang jeden Tag mit Hammer und Meißel den Felsen zu teilen, damit er eine Straße bauen konnte, die zu dem Dorf mit einem Arzt führt. Die Leute sagten, er wäre verrückt, brachten ihm aber Essen und Trinken. Es entstand eine 110 Meter lange Straße, die nun die beiden Dörfer verbindet. Ein Denkmal erinnert an ihn, ein Held für die Inder.

Ich lese die Zeitung. Darin steht, dass Scharmila Devi (28), Mutter von vier Kindern, mit großem Vergnügen in einer Fabrik 8 Stunden am Tag in Bihars Patna Distrikt Alkohol-Flaschen zerschlägt. Ihr Mann ist Alkoholiker und schlug sie oft. Alkohol dort ist seit 2016 verboten.


20. Februar 2023:

Wir fahren nach Bodhgaya, dem „Ort der Erleuchtung“ von Buddha, dem heiligsten Ort der Buddhisten. Für das Filmen muss man 500 Rupien und für das Fotografieren 200 Rupien bezahlen. Den Rucksack darf man nicht mitnehmen. Wir werden zweimal streng kontrolliert, Frauen und Männer getrennt. Der Guide gibt sein Smart-Phone ab. Viele Pilger aus Thailand, Nepal und Tibet sind hier. Eine große Buddha-Skulptur sitzt auf einer Lotos-Blüte beschirmt von einer Kobra, die den Regen vom meditierenden Buddha abhalten soll, sie steht in einem See, den es zu Buddhas Zeiten noch nicht gab. Der Bodhi-Baum, der schon dreimal nachgepflanzt wurde, unter dem Buddha erleuchtet wurde, steht hinter einem Schutz-Zaun. Ein langer schwarzer Stein ist am Gitter angebracht. Es soll der Fußabdruck von Buddha sein. Gläubige legen ihre Stirn daran.

„Beim Meditieren muss man die Augen halb offen halten“, erklärt Devi. „Man soll nicht schlafen.“ Wir stehen an der großen, 25 Meter hohen Buddha-Statue, die der Dalai Lama 1989 enthüllte. „Dieser Buddha hatte keine Locken. Was Sie hier sehen sind Schnecken. Sie legten sich auf Buddhas Kopf, als er in einer Höhle lange meditierte.“
Ich kenne den Locken-Kopf aus der Gandhara-Zeit, als Griechen über die Seidenstraße nach Indien reisten und solche Buddha-Statuen schufen. Sie machten Buddha zu einem Griechen und gaben ihm sein Gesicht.
Wir besuchen den Mahabodhi-Tempel mit einem goldenen Buddha, dessen Korona aus echten Diamanten besteht. Eine Frau und ein Mann wollen sich nicht den Vortritt lassen. Der Mann schubst die Pilgerin. Sie fällt und schreit. Eine Polizistin kommt und schlichtet den Streit. Und das vor Buddha!

Unterwegs sehen wir einen offenen Lastwagen mit roten Gasflaschen. „Eine Gasflasche kostet 15 Rupien für einen normalen Haushalt. Sie hält mit ihren 14,5 kg ein bis zwei Monate. Blaue Gasflaschen sind für die Wirtschaft und teurer. Die Gasflaschen werden zu den Leuten nach Hause geliefert.“

Wir sehen einen verstümmelten Bettler. „Werden Kinder immer noch verstümmelt, damit sie beim Betteln Mitleid erregen und dadurch mehr Geld bekommen?“ „Ja, leider. Das ist natürlich verboten, aber es gibt Banden, die Kinder stehlen und dann verstümmeln. Die Kinder erzählen, sie sind aufgewacht, da waren sie verstümmelt. Darum soll man verstümmelten Bettlern nie Geld geben. Sonst werden die Banden ermutigt, weiter Kinder zu verstümmeln.“ 2023 hat ein katholischer Priester Narendra Modi auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Er sagte zu, eine Untersuchung dazu einzuleiten. „Arme Kinder können kostenlos in die Schule gehen. Aber deren Eltern wollen, dass sie auf dem Feld helfen oder betteln. Die Regierung bietet Bettlern einen garantierten Job für 100 Tage zum Beispiel beim Straßenbau an. Aber sie wollen lieber betteln.“ Ich finde, das hört sich nach Vorurteilen an, wie bei uns einige Bürger sagen, die Sozialhilfeempfänger sind nur zu faul zu arbeiten. Wenn ich mir die Bettler in Indien ansehe, frage ich mich, wie sie beim Straßenbau arbeiten sollen.

„Ich habe ein Haus gekauft. 50 % bar bezahlt, 50 % durch die Bank finanziert. Das ist Vorschrift, um die Korruption einzudämmen. Vorher habe ich mit meiner Frau und dem zehnjährigen Sohn in einer 2-Zimmer-Wohnung gelebt. Bei uns wohnt auch meine Schwiegermutter.“ „Was arbeitet Ihre Frau?“ „Sie ist Lehrerin. Hat zweimal das große Abitur gemacht. Studierte Literatur und Philosophie. Ich habe Geschichte und Philosophie studiert. Sie unterrichtet alle Fächer bis zur 12. Klasse. Bis mittags arbeitet sie, dann holt sie meinen Sohn“ – mir fällt die Formulierung „meinen“ auf, ist es nicht auch ihr Sohn? – „von der Schule ab. Nachmittags gibt sie Nachhilfe bei einem Mädchen und woanders bei einem Jungen.“

Wir kommen in Patna, der Hauptstadt des Bundesstaates Bihar, an. Überall hängen rote Fahnen mit Hammer und Sichel an den Laternen. „Hier ist gerade ein kommunistischer Kongress“, erklärt Devi. „Sie versammeln sich in Ihrem Hotel. – In Patna hat der gewaltfreie Widerstand durch Gandhi gegen die britische Kolonialmacht begonnen. Gandhis Asche wurde auch hier im Ganges versenkt.“

Der Grieche Megasthenes beschrieb Pataliputra, so hieß damals Patna, in vier Büchern, als er um 300 v. Chr. als Gesandter des Seleukiden-Herrschers Seleukid I am Hof des Königs von Sandrokottos weilte. In Patna starb 550 Aryabhata, der berühmte Mathematiker und Astronom. Er gilt als der Erfinder der O (Null) und berechnete die Positionen der Sonne, des Mondes und der Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn.

Wir besuchen das Bihar-Museum, 2015 eröffnet als hochmoderner Bau, der die Geschichte Bihars zeigt. Danach fahren wir durch das Verkehrschaos und besichtigen einen Sikh-Tempel. Die Sikhs schneiden sich niemals in ihrem Leben die Haare. Darum tragen sie einen Turban. Außerdem eine dolchähnliche Waffe. Sie sind als unerbittliche Krieger bekannt. - Arme und Beine müssen wir bedecken, Haare unter einem orangen Tuch verstecken, Schuhe und Strümpfe ausziehen. Wir waten durch ein Wasserbecken. Wir steigen die weißen Marmorstufen zum Tempel hinauf. Das heilige Buch, das 10 Propheten geschrieben haben, jetzt lebt der 11., wird verehrt. Ein Sänger, ein Trommler und ein Harmonium-Spieler sitzen in Lotos-Stellung vor dem Podest mit dem heiligen Buch und spielen. Fernsehkameras sind auf sie gerichtet. Später sehen wir im Fernsehen diesen Auftritt. Die Kuppel über dem Thron ist aus Gold. Wieder müssen wir durch ein Wasserbecken waten, Treppen runter, dann über einen Hof, Treppen hoch zur Großküche. Hier wird im Ehrenamt viermal am Tag für die Armen gekocht. Wir sehen Freiwillige, die an einer Brotmaschine arbeiten, Teig kneten, in riesigen Kesseln Linsen und Reis kochen.

© Reinhild Paarmann, Juni 2023.


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2023/06/08


Reinhild Paarmann
Reise-Impressionen aus Indien, Teil II


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Eine Ziegelei.
Fotografiert von Karl-Heinz Wiezorrek.


16. Februar 2023:

Auf dem Weg zum Bahnhof für die Abfahrt nach Bhagalpur sehen wir einen Barbier, der seinen Kunden auf dem Gehweg einschäumt. Wir belegen unsere Plätze in einem Schlafwagen. Die Liegen funktionieren wir um zu Sitzen. Vom Fenster aus sehen wir zwei Kühe, die an der Seite der Schiene angekettet sind. Menschen laufen auf Schienen. Ein Mann putzt sich die Zähne.

Im Vorbeifahren sehen wir gebückte Bauern auf ihren Feldern. Menschen unter Regenschirmen gegen die Sonne. Ein Kaffeeverkäufer läuft barfuß durch den Wagen. Ein Mann fegt mit einem Strohbesen den Gang.

Wir kommen in Jasidih nach fünf Stunden an. Unser Guide Devi sieht übermüdet aus. Er ist seit 20 Stunden aus Delhi zu uns unterwegs. „Ich war hier noch nie. Da ihr Zug gecancelt wurde und sie einen anderen nehmen mussten, kommen sie in Jasidih an statt in Bhagalpur. Der Fahrer kennt sich hier auch nicht aus.“
Der Fahrer fährt in die falsche Richtung bis zu Straßenabsperrungen, auf denen Löwen abgebildet sind. „Hier beginnt der Jungle“, erklärt Devi, der das deutsche Wort für 'Dschungel' nicht kennt.
Der Fahrer wendet das Auto.
„Wir wollten eigentlich mit dem Schiff den Ganges bis Varanasi hochfahren, aber der Wasserstand wäre zu ungewiss wegen der Klimaveränderung, teilte uns das Reisebüro mit“, erzählt mein Mann.
„Das stimmt gar nicht. Schweizer Touristen haben die wenigen Boote, die diese Tour machen, für dieses und schon für nächstes Jahr gebucht“, antwortet Devi.
„Gibt es keine Klimaveränderung?“
„Doch. Im Winter ist es in Indien viel kälter als normal und im Sommer viel heißer bis 45 Grad.“


17. Februar 2023: Bhagalpur

Um 5 Uhr ertönt die Stimme des Muezzins. „Das ist eigentlich verboten“, erklärt uns später Devi.
Ich erschlage zwei Moskitos und habe Blut an den Fingern.
Über die Geflüchteten berichtet Devi: „Sie kommen aus Bangladesch und sprechen die gleiche Sprache wie die in Bengalen. Eine Straße führt nach Indien. Es ist nicht weit. Aber einige haben unsere Ganga-Delphine“, er sagt Gänga-Dolphin, „die unter Naturschutz stehen, gefangen und nach Bangladesch gebracht, dort geschlachtet und gegessen. – Noch schwieriger ist es mit den 40.000 Rohingya aus Myanmar, die aus Angst vor Verfolgung geflohen sind. Es sind Moslems. Die indischen Moslems, die hier schon lange leben, möchten nicht, dass noch mehr Glaubensgenossen hierher kommen.“
Das kenne ich von meinen türkischen Klienten, die sich auch gegen mehr Einwanderung durch ihre Landsleute aussprechen.
„Die Moslems schmuggeln meist und einige davon sind Terroristen. Aber es gibt auch Freundschaften zwischen Hindu und Moslems. Als ich studierte, hatte ich moslemische Freunde. Aber sie sind so anders. Wenn sie eine Frau sehen, dann sagen sie gleich: 'Oh, ist die schön'. Ich sehe auch, dass sie schön ist, aber ich sage das nicht. – Afghanische Frauen arbeiten als Prostituierte, denn sie sind Analphabetinnen und können sonst kein Geld verdienen.“

„Was denken Sie über den Ukraine-Krieg?“
„Wir sind neutral, seit 70 Jahren mit Russland befreundet, verkaufen ihnen Waffen.“

Viele Ziegeleien mit ihren rauchenden Schornsteinen sind vom Auto aus zu sehen. „Die Arbeiter verdienen hier wenig. Sie können nur durch Marihuana und Alkohol die Arbeit ertragen. Beides ist hier verboten. Aber man drückt ein Auge zu. Alkohol ist in drei Bundesstaaten in Indien verboten. Man diskutiert darüber, ob man das Verbot aufheben soll. Alle großen Politiker trinken heimlich Alkohol. Die Frauen sind gegen die Aufhebung, denn Alkohol abhängige Männer schlagen sie.“
„Gibt es Frauenhäuser?“
„Ja.“
Das stimmt nicht. Es gibt nur ein Frauenhaus vom SOS-Kinderdorf finanziert, das alte, obdachlose Frauen und Kinder aufnimmt. Terre des Femmes hat eine Beratungsstelle bei einer Polizeistation.
„Ich habe vom Opium-Anbau im Buch: »Das mohnrote Meer« von Amitav Ghosh gelesen, wie die britische Kolonialmacht die Bauern zwang, Mohn anzubauen und in den Fabriken dafür zu arbeiten.“
„Früher wurde auch Mohn angebaut. Aber nur eine geringe Menge. Opium und Alkohol wurden an Hochzeiten und zu religiösen Zeremonien genommen.“

Wir kommen bei der ehemaligen buddhistischen Vikramashila-Universität aus dem 8.- 9. Jahrhundert n. Chr. an. Es war neben Nalanda die bedeutendste Kloster-Universität in Indien und ein Zentrum des tantrischen Buddhismus. „Der Stupa hier enthält Asche von Buddha“.
„Aber es gibt doch so viele Stupas, auch in Thailand und Sri Lanka. Sie können doch nicht alle Asche von Buddha enthalten“, wende ich ein.
„Ja, nur die zehn ältesten. Für die anderen ist es symbolisch. Die Leute glauben es. Manche Eltern glauben auch, dass, wenn sie ein Kind opfern, sie einen Wunsch erfüllt bekommen. Das ist schwarze Magie. Natürlich verboten. Aber kommt noch vor. – Ich habe einen Guru, der 27 Jahre alt ist, er hat eine Seite bei You-Tube. Die Gläubigen kommen scharenweise zu ihm und äußern einen Wunsch, zum Beispiel, von ihrer Krebs-Krankheit geheilt zu werden, die bisher kein Arzt heilen konnte. Der Guru schreibt etwas auf einen Zettel. Dann sagt er zu dem Bittenden: Du wirst in einigen Wochen geheilt sein. Und so ist es dann auch.“
„Und wie viel muss er dafür bezahlen?“
„Gar nichts. Mein Guru braucht nur eine Matte zum Schlafen und zwei Mahlzeiten am Tag. Von den Spenden finanziert er das Essen für seine Anhänger und Krankenhäuser. – Die Universität hatte eine Bibliothek. Alles wurde durch die Muslime zerstört.“

Sie sehen ein Relief an einer Mauer: Eine Tänzerin betrachtet sich in einem Spiegel. „Ich denke, Frauen waren hier verboten?“
„Ja. – Wie viele Touristen waren letztes Jahr hier?“, fragt der Guide die Wache. Er selbst kannte den Ort auch noch nicht. „Einer.“
Vor der Anlage rufen Kinder einer Schulklasse, alle in Uniformen, etwas. „Was rufen sie denn?“
„Indien ist gut. – Alle Kinder tragen eine Schuluniform, damit sie alle gleich aussehen, niemand weiß, ob ein Kind aus einer armen oder einer reichen Familie stammt.“
„Aber manchen Eltern fällt es schwer, das Geld für eine Schuluniform aufzubringen.“
„Dann bezahlt sie der Staat. – Ich habe eine Militär-Schule besucht, denn ich komme aus der Krieger-Kaste. Mein Bruder ist bei den Soldaten. Dieser Job ist heiß begehrt, aber die Aufnahmeprüfung schwer. Man bekommt für sich und seine Familie umsonst eine Kranken- und Unfallversicherung, außerdem Strom und Wasser. Wir können im Duty-Free-Shop einkaufen. Mit 60 Jahren kann man in Rente gehen und darf sein Gewehr mitnehmen. Dann kann man noch im Wachdienst arbeiten. - Meine Eltern haben einen anderen Guru als ich. Sie sind streng-gläubig und essen kein Fleisch. Wenn ich auf Reisen bin, esse ich schon mal Fleisch. – Unsere 4. Religion ist die Korruption“, der Guide lacht. „Die gab es schon immer in Indien und ist kulturell bedingt. Ich habe einen You-Tube-Film gesehen mit einer Lehrerin, die nicht mal das Alphabet konnte. Durch Bestechung hat sie das Zertifikat erhalten, als Lehrerin arbeiten zu können, denn das ist lukrativ. Unser Ministerpräsident Modi hat der Korruption den Kampf angesagt. Er ist nicht verheiratet, kann also nicht seine Familie begünstigen. Als 3. Kind von 6 wurde er in einer niedrigeren Kaste geboren. Sein Vater hatte einen Lebensmittelladen und einen Tee-Stand. Modi hat mit seinem Bruder als Kind auf dem Bahnsteig Tee verkauft. Mit 13 Jahren sollte er verheiratet werden. Er ging in den Wald und meditierte mit Saddhus. Zwei Jahre wanderte er in Indien herum. Dann nahm er ein Fernstudium auf und machte seine Abschlüsse an zwei verschiedenen Universitäten.“

Devi hat mit Begeisterung und Verehrung von ihm gesprochen. „Varanasi war früher schmutzig. Modi hat dort Häuser abreißen und ein neues Ghat bauen lassen. Jetzt ist alles dort sauber. Er verbot, dass dort Kühe frei herumlaufen. Die heiligen Stiere haben sich öfter Kämpfe geliefert, wodurch die Bevölkerung gefährdet war. Das Verbot kam nicht durch, weil die Leute protestierten. Nun dürfen die Nandus, die heiligen Stiere, das Reittier von Shiva, sich dort frei bewegen.“
Wir erinnern uns an einen You-Tube-Beitrag, in dem ein Besucher von Varanasi schrieb, er würde nie wieder dorthin reisen, weil es so schmutzig wäre.
Wir fahren an einem Raps-Feld vorbei. „Im Winter essen wir drei Monate lang die Blätter vom Raps. Sie sind etwas bitter. Wir essen Hirsebrei, denn ich komme aus der Wüste, Rajasthan. Weizen wächst bei uns nicht. Wir nehmen Bockshorn-Klee als Gewürz.“


18. Februar 2023:

Wir fahren nach Nalanda, zur ältesten Universität der Welt, Unesco-Welt-Kulturerbe, eine Universität aus dem 5. Jh. n. Chr.

Devi erzählt über die Moslems, dass für sie die Hindu Ungläubige sind. „Von ihren Hodschas werden sie aufgefordert, so viele Ungläubige wie möglich umzubringen. Dann kommen sie in den Himmel, wo 72 Jungfrauen auf sie warten. Es kommt vor, dass der Vater seine Tochter heiratet. Das wäre bei ihnen erlaubt. Sie missionieren, die Hindu nicht. Moslems werden angehalten, Hindu-Mädchen zu heiraten, damit diese und die Kinder islamisch werden. Der Imam sagt, die jungen Männer sollen im Internet Hindu-Mädchen suchen, sie in sich verliebt machen und dann heiraten. Die Moslems wollen nur ein bisschen Spaß.“ Der Guide lispelt. „ Nach zwei Monaten können sie sich scheiden lassen. In der Zeitung stand ein Fall, wo ein Moslem ein Hindu-Mädchen heiratete. Sie wusste gar nicht, dass er Moslem ist. Erst haben sie nach Hindu-Glauben geheiratet, dann eröffnete er seiner Frau, dass er Moslem wäre und sie nun noch nach seinem Brauch heiraten müssten.
Die Frau geriet mit ihrem Mann darüber in Streit. Da tötete er sie und zerteilte sie in 36 Stücke. Nach und nach warf er die Teile weg. Ein Hund fand eine Hand. Die Polizei wurde aufmerksam.“

„Die Verwandten des Mädchens wunderten sich, dass sie sie nicht mehr per Smart-Phone erreichen konnten.
Der Mann hatte ihr Smart-Phone ausgestellt. Der Täter wurde zum Tode verurteilt. Er sagte nur: ‚Na und? Im Himmel warten 72 Jungfrauen auf mich‘!“
„Können Moslems Hindus werden?“
„Ja, denn die Inder waren ja alle Hindus, bevor sie die Mongolen zwangen, Moslems zu werden.“

Wir sehen Kuhfladen, die zum Trocknen überall angeklatscht wurden: an Mauern, Bäumen. Sie werden als Brennmaterial verwendet.
„Das macht schlechte Luft. Darum bezahlt die Regierung den Bauern, die sich das nicht leisten können, einen Gasherd.“
Im Vorbeifahren aus dem Auto sehe ich eine Frau, die mit einem Stock zwei kleine Kinder schlägt. Die Kinder weinen.
Wir besuchen das Nalanda-Museum. Man darf nicht fotografieren oder filmen. Relikte aus den Ausgrabungen der Universität, Buddha–Statuen aus verschiedenen Epochen, eine Kupferplatte, hinduistische Götter, die durch die Zerstörung der muslimischen Herrscher übrig geblieben sind, kann man ansehen.

© Reinhild Paarmann, Juni 2023.


Zum Anfang

2023/06/05


Reinhild Paarmann
Reise-Impressionen aus Indien, Teil I


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Ein Zuckerrohrsaft-Hersteller.
Fotografiert von Karl-Heinz Wiezorrek.


14. Februar 2023:

Wir fliegen nach Kolkata und kommen am nächsten Tag an. Mit einer weißen Blumenkette werden wir vom Guide begrüßt. Wir sind mit dem Guide und einem Chauffeur im Auto unterwegs zum Hotel.
Ich frage ihn: „Im Internet habe ich gelesen, dass Kolkata gar nicht am Ganges, sondern am Hugli-River liege.“ „Das würde ein Inder nie sagen. Natürlich liegt Kolkata am Ganges.“
„In meinem Reiseführer habe ich gelesen, dass die Marxisten 1977 die Wahl gewannen, nun spielen sie aber keine große Rolle mehr. Wie kommt das?“
„Viele Unternehmen verließen Bihar (Anmerkung des Herausgebers: Soll wahrscheinlich West-Bengalen heißen), wodurch eine große Arbeitslosigkeit ausbrach. Aber Indien überlebt alle Katastrophen, weil es den Ganges hat. Nehru sagte einmal: 'Der Ganges sei die Nabelschnur zur indischen Gesellschaft'.“

Wilde Hunde laufen auf der Straße. Der Mond wie eine Mango-Scheibe am Himmel. Schlechte Luft dringt ins Auto. Durch ein wütendes Hundegebell werden wir morgens geweckt. Es duftet nach Curry. Unser Guide sagt uns später, dass Curry eine Erfindung des Westens wäre. Die Inder nehmen Masala als Gewürzmischung in ihre Speisen und Getränke.

Wir starten nach dem Frühstück auf der Dachterrasse des Hotels zu einer Stadtrundfahrt. Ein Kamel angelt mit seiner Zunge durch den Zaun, um an eine Pflanze zu gelangen.
„Kali ist die Schutzgöttin von Kolkata“, erklärt der Guide. „Es entstand aus drei Dörfern. Das eine Dorf hieß Kalikat. Danach wurde Kolkata genannt. „'Raum für Kali' heißt das übersetzt.“

Wir steigen aus. Auf dem Gehweg klingelt es bei einem Zuckerrohrsaftpresse-Stand, um Kunden anzulocken. Wir besichtigen einen Jain-Tempel und müssen vorher die Schuhe ausziehen.
„Wissen Sie, warum Sie die Schule ausziehen müssen? Der Fuß-Staub bringt Glück in den Tempel.“ Die Jains wollen kein Lebewesen verletzen und tragen deshalb meist einen Mundschutz, um nicht versehentlich eine Fliege zu verschlucken. Mein Mann muss sogar seinen Ledergürtel und sein Portemonnaie ablegen, da diese aus geschlachteten Tieren sind. Der Tempel ist prächtig mit Spiegeln ausgestattet. Wir dürfen nur um das Heiligtum herumgehen. Innen ist es nicht gestattet zu fotografieren oder zu filmen. Vor dem Tempel kaufe ich einem weißgekleideten Mann Innenaufnahmen des Tempels ab, worüber er sich freut. „Geben Sie dem Mann, der auf Ihre Schuhe aufgepasst hat, Geld, denn er ist arm. Der Leiter dieser Jain-Gemeinde ist reich. Er lebt in einem Palast allein in 16 Zimmern.“ Der Garten um den Tempel ist wunderbar gestaltet. Auf einer Mauer ist ein Relief mit Abbildungen: „Der Lehrer geht hier mit den Kindern hin und lässt sie erklären, was sie sehen: Die Schlange frisst den Fisch, der Pfau frisst die Schlange, der Mensch tötet den Pfau, der Tiger frisst den Menschen. Die Kinder sollen erkennen, dass sie keine Tiere essen sollen.

„Ein anderes Lehr-Relief ist hier zu sehen“, er zeigt uns eine andere Stelle. „Ein Mann stiehlt vom Baum Obst. Der Elefant schüttelt den Baum, so dass der Mann runterfällt auf die Schlange, die schon auf ihn wartet. Die Kinder sollen dadurch lernen: Du sollst nicht stehlen. – Oben an der Fassade sehen Sie das Sonnenzeichen, das ungebildete Touristen als Hakenkreuz bezeichnen, obwohl es das Glückssymbol ist. In jedem der vier Haken ist ein Punkt. Jeder Punkt bedeutet einen Zeitabschnitt von 5.000 Jahren. Es gibt vier Abschnitte, dann geht die Welt unter.“
„Wir befinden uns in der Kali-Yuga-Ära“, sage ich.
„Sehen Sie das Haus auf dem Nebengrundstück? Da brennen hinter jedem Fenster Butterschmalz-Lampen. Jain-Paare übernachten nach der Hochzeit hier eine Nacht. Da dürfen die Eheleute keinen Sex haben. - Was wissen Sie über die Jains?“
„Frauen und Männer sind gleichberechtigt.“
„Ja.“

Wir steigen wieder ins Auto ein. Der Guide erzählt: „Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Bengale. Ich wurde in Kolkata geboren. Die Saison als Touristenführer beträgt im Jahr nur drei Monate. Hier nach Bengalen kommen nicht viele Touristen. In der Corona-Zeit kam fast gar keiner. Ich arbeite dann als Dolmetscher. Ein halbes Jahr lebe ich bei meiner Mutti in Berlin-Wilmersdorf, dann besuche ich noch meine Schwester in Bayern. Meine Mutti hat gesagt, ich dürfe keine Deutsche heiraten.“
„Warum denn das?“
„Sie kennt mich.“

Viele Straßen sind über den Gehweg hinaus von Händlern belegt. „Die Einwanderer aus Bangladesch verkaufen hier ihre Waren. Unsere Chief-Ministerin Mamata Banerjee gibt ihnen Lizenzen, denn sie sagt, wovon sollen die Leute sonst leben? Es ist nicht bekannt, wie viele Flüchtlinge in Kolkata leben. In ganz Indien sind es 50.000. Sie sind Analphabeten. Unsere Chief-Ministerin gibt ihnen Pässe, damit sie wählen können. Sie regiert in 2. Amtszeit, wird sicher nicht wieder gewählt. Sie ist bei den Hindu nicht beliebt und bevorzugt Moslems. Alle fünf Jahre wird bei uns gewählt. 2027 wieder.“
Eine Statistik von 2018 nennt Geflüchtete aus Tibet, Tamilien aus Sri Lanka, 19.000 aus Myanmar (Rohingya), Muslime aus Bangladesch, 1.300 Afghanen.
„Wir haben jetzt die dritte Generation Flüchtlinge, die in Wohnungen wohnen, die 50 Rupien im Monat Miete kosten. Die Regierung darf die Miete nicht erhöhen, möchte aber, dass die Flüchtlinge ausziehen, weil sie die alten Häuser abreißen will. Die Flüchtlinge aus Bangladesch zahlen nur zwei Rupien für eine ärztliche Behandlung, die anderen Flüchtlinge bekommen sie kostenlos. Die moslemischen Flüchtlinge zahlen keine Steuer, weil sie arm sind und viele Kinder haben. Während wir Hindu nur 2 bis 3 Kinder haben, dürfen die Moslems viermal heiraten, uns ist nur eine Ehe erlaubt.
Alle 10 Jahre gibt es eine Volkszählung. Die Einwohnerzahl von Indien beträgt 1,2 Milliarden. Davon sind 14,2 % Muslime. Wenn sie weiter so viele Kinder bekommen, sind wir bald in der Minderheit.“
Das hört sich nach Argumenten der „Rechten“ an, die bei uns auch Angst vor Überfremdung durch Ausländer haben. In dem Buch »Gebrauchsanweisung für Indien« von Ilija Trojanow, 2006 erschienen, steht zu diesem Thema:
„Laut amtlichen Angaben beträgt das Wachstum unter Hindu 2,19 % im Jahr, bei Muslimen hingegen etwa 2,71 %. Bliebe es bei diesem Verhältnis, so würden die Muslime erst in vierhundert Jahren die Hälfte der Bevölkerung ausmachen.“
„Es sind Kriminelle dabei.“ In Indien herrscht große Angst vor Terrorismus. Es gibt öfter Anschläge. Als Tourist wird man stark kontrolliert.

„Was halten Sie von Salman Rushdie?“
Der Guide berichtet vom Anschlag auf Rushdie, ohne selbst Stellung zu beziehen.
„Tagore schreibt von einer Sekte mit Namen ‚Bramao‘ in seinem Buch: »Gora«. Die Sekte ist gegen das Kastenwesen, erlaubt den Frauen viele Freiheiten. Hat diese Sekte noch heute Einfluss? Tagore wurde hier in Kolkata geboren.“
„Die Sekte gibt es nicht mehr. Es gibt in Indien drei Religionen: die Zarathustra-Anhänger, Buddhisten und Hindu.“
„Und die Moslems?“
„Das ist eine fremde Religion, wurde im 13. Jahrhundert durch die Eroberung von fast ganz Indien durch die Mongolen eingeführt. Sie verehren keine Götter, haben das Bildverbot, ganz anders als im Hinduismus. Ein Tourist wunderte sich einmal, warum in einer Moschee ein Foto vom Vater des Imans hing, der sich davor verbeugte. 'Ich denke, bei Ihnen gibt es das Verbot, Bilder zu verehren?'
'Ja. Aber wie die Hindu ihre Götter als Skulpturen verehren, weil sie sie nicht mehr sehen können, so verehre ich das Bild meines Vaters, der gestorben ist und ich ihn deshalb nicht mehr sehen kann'.

„Wie viele Juden gibt es in Indien?“„25.“ Bei der Volkszählung 2011 wurden 4.400 Juden gezählt.

Wir halten beim Kumartuli, dem Töpfer-Viertel, in dem Künstler, unterstützt durch die Regierung, Skulpturen für Feste herstellen. Wir sehen die Strohgerüste, die mit grauem Ton ummantelt werden. Göttergestalten wie Shiva entstehen, teilweise in Lebensgröße oder noch größer. „Demnächst ist das Shiva-Fest. Es findet immer am 14. Tag des Monats Phalguna statt, also Ende Februar, Anfang März. Dann werden die Figuren von Gläubigen gekauft und zum Tempel getragen. Da sie nicht gebrannt werden, überstehen sie den nächsten Monsun nicht.

Hier, sehen Sie den Glaskasten, hinter der eine 350 Jahre alte schwarze Durga mit herausgestreckter roter Zunge sitzt?
Günter Grass hat danach sein Buch: »Zunge zeigen« genannt. Günter Grass hat Indien nicht verstanden, obwohl er hier ein halbes Jahr lebte. Sein Buch kam in Indien nicht gut an.“
„Bei uns in Deutschland auch nicht.“
„Ich erkläre Ihnen jetzt, warum Durga die Zunge herausstreckt: Sie hat ganz lange mit aller Kraft gegen das Böse gekämpft. Dann war sie erschöpft und hat sich auf Shiva gelegt. Vor Erstaunen ließ sie die Zunge heraushängen.“
Sie fing mit ihrer Zunge das Blut der Feinde und ihres eigenes auf.
„Die Künstler bekommen hier umsonst zu essen, sehen Sie hier die großen Kessel?“

„Merken Sie die Klimaveränderung hier in Indien? Uns wurde die Ganges-Fahrt flussaufwärts abgesagt, weil der Fluss wegen der Klimaveränderung nur noch ungewisse Mengen von Wasser zu bestimmten Zeiten führt.“
„Früher war der Monsun von Juni bis August. Jetzt von August bis Oktober. Früher prasselte der Regen nur so. Jetzt ist es ein Nieselregen, der schnell wieder aufhört, anfängt … Nehru hat Fehler nur gemacht. Seine Partei gibt es nicht mehr.“
„Aber er hat doch die Landwirtschaftsreform durchgeführt, das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Seitdem ist Indien die größte Demokratie der Welt“, wendet mein Mann ein.
„Nehru wollte Kashmir für Indien haben. Der Maharadschah konnte sich nicht entscheiden, ob Kashmir zu Pakistan oder zu Indien gehören sollte. Da marschierte Indien in Kashmir ein. Seitdem gibt es den Kashmir-Konflikt. Nehrus Fehler war die Teilung von Indien, die er mit den Engländern auf dem Reißbrett festlegte. Millionen Menschen flohen. Indien sollte rein hinduistisch werden. Die Moslems zogen nach Pakistan.“
„Aber die Teilung war doch gedacht, damit die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Moslems und Hindu aufhören!“„Ach, das war gar nicht so schlimm!“
Ich erinnere mich an schreckliche Vorfälle, die dann nach der Teilung zunahmen. Im Nachhinein kann man sich fragen, was die Teilung gebracht hat, denn es leben ja immer noch Moslems in Indien.
„Indira Gandhi hat auch einen schlechten Ruf“, erklärt der Guide.
„Wieso?“„Sie wurde 1966 gewählt, 1971 wieder, hielt einen sozialistischen Weg ein, nationalisierte die Banken, schaffte die Privatschatullen für die Maharadschas ab und brachte neue Gesetzesvorlagen zu Firmenprofiten und Erträgen aus Grundbesitz ein. Wegen ihres Erfolges durch die Einführung hochwertiger Getreidesorten bekam Indien durch die USA Sanktionen. Die Spannungen im Kashmir-Konflikt führten beinahe zu einem Krieg mit Pakistan.“

Wir fahren zum Victoria Memorial. Beim Aussteigen warnt der Guide: „Achtung, hier sind Diebe unterwegs.“ Obwohl alle aufpassen, fehlen hinterher dem Fahrer ein paar Geldscheine aus der Brusttasche seines Hemdes. Der Guide zahlt Eintritt. „Es kostet jetzt Eintritt für den Park, da die Liebespaare abends gar nicht mehr nach Hause wollten, sehen Sie die weißen Vögel da hinten auf den Bäumen sitzen? Sie warten nur darauf, dass die Besucher verschwinden. Dann fliegen sie in den Park.“ Auf dem Rasen sieht man Familien sitzen. „Picknick ist verboten. 42 Gärtner sind hier beschäftigt und pflanzen immer wieder neue Blumen. Um Kolkata herum gibt es riesige Gärtnereien, die Blumen liefern.“ Wir stehen vor der großen Skulptur von Königin Victoria. Schwärmerisch sagt der Guide: „Sie hat 14 Kinder bekommen, darum ist sie dick geworden und konnte dann nicht mehr ihr geliebtes Indien besuchen. Wir gehen in das Gebäude nicht rein, weil die Ausstellung der Kolonialzeit Propaganda ist.“ (Anmerkung des Herausgebers: Queen Victoria von England hatte in Wirklichkeit nur 9 Kinder).

„Leute vom Dorf sehen sie sich an und sind laut – Der weiße Marmor vom Memorial stammt aus Italien und wird alle drei Jahre mit einem Sandstrahler gereinigt. Der spezielle Sand kommt aus Pakistan. Die Prozedur dauert neun Monate.“

Wir wollen mit der Straßenbahn zum Haus von Mutter Teresa, The Mother House of the Missionaries of Charity, fahren und müssen eine halbe Stunde auf den Fahrer warten, bis die Bahn abfährt. Im Museum machen wir einen Rundgang durch das Leben der Mutter Teresa. Ich erinnerte mich, wie ich als Jugendliche für Mutter Teresa schwärmte und auch wie sie mich in Kolkata um die Armen und Straßenkinder kümmern wollte. Wir sehen die Friedensnobelpreisurkunde von 1979. Ich lehne heute Teresa wegen ihrer Haltung zur Abtreibung und Verhütung ab, besonders in Indien. Auch ihre Kritik der Politik der Kommunistischen Partei in West-Benalen, die die Armen aus wirtschaftlichen Abhängigkeiten befreien wollte, ist mir unsympathisch.

„Wir helfen den Erdbeben-Opfern in der Türkei, haben ein großes Flugzeug mit Hilfsgütern geschickt und einige Suchhunde, von denen schon zwei umgekommen sind“, sagte unser Guide.
Wir fahren am Krematorium vorbei. „Hier wird alles bis auf den Bauchnabel verbrannt. Dieser wird in einen Topf getan und dann im Ganges versenkt. – Wenn Sie nachher abends spazieren gehen, nehmen Sie keinen Rucksack mit. – Was können die Bewohner von Kolkata am besten? Schnell Geld zählen und Kinder machen“, der Guide lächelt.
Ich erinnere mich, wie wir am Flughafen Geld wechselten. Die Bankbeamten konnten tatsächlich sehr flott das Geld zählen.

© Reinhild Paarmann, Juni 2023.


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2023/06/02


Rosenzeit


rosenzeit
Foto von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/05/31


vorschau06


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2023/05/27


Anna Seghers zum 40. Todestag
Mainz 19. November 1900 - Ost-Berlin 1. Juni 1983


seghers
Anna Seghers (Netty Reiling).
© Akademie der Künste, Berlin,
Anna-Seghers-Archiv, Fotokartei, Nr. 08.
Mit freundlicher Genehmigung von Anne Radvanyi.


Das Anna-Seghers-Museum schreibt:

"Nach dem Tod von Anna Seghers am 1. Juni 1983 - sie ist auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte neben ihrem Mann beigesetzt - gestaltete die Akademie der Künste der DDR die Adlershofer Wohnung zu einer Gedenkstätte um. Den literarischen Nachlass hatte Anna Seghers der Akademie testamentarisch vermacht, heute betreut ihn das Archiv der Akademie der Künste. Die Tantiemen ihres Werkes kommen, Anna Seghers' Wunsch entsprechend, jungen deutschen und lateinamerikanischen Schriftstellern zugute: Am 19. November, dem Geburtstag der Künstlerin, wird alljährlich der »Anna-Seghers-Preis« verliehen.

In der Gedenkstätte in Adlershof verblieben das Wohn- und Arbeitszimmer mit der wertvollen Bibliothek im Originalzustand. Im Zimmer von László Radványi ist neben den Erstausgaben und einer umfangreichen Sammlung deutscher und fremdsprachiger Belegexemplare eine kleine ständige Ausstellung zu sehen, die einen chronologischen Überblick über wichtige Lebensstationen von Anna Seghers gibt, sowie persönliche Erinnerungsstücke der Schriftstellerin zeigt."


Anna-Seghers-Museum
Wohnung von Anna Seghers
Anna-Seghers-Straße 81
12489 Berlin Adlershof
Dienstag und Donnerstag 10 - 16 Uhr
Eintritt 4/2 Euro.

Bitte vor dem Besuch des Museums anrufen und eine Führung vereinbaren !
Telefon: 030/6774725.


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2023/05/24


Dr. Hans-Albert Wulf
Beethovens Witwe


metronom
Historisches Metronom. Quelle: Wikimedia Commons.


Als wir am nächsten Tag das Bibliotheksgebäude betraten tönte uns aus dem Musikraum energische Klaviermusik entgegen. Da griff jemand ganz gewaltig in die Tasten. Und alles ohne sich ein einziges Mal zu verspielen! Selbst die schwierigsten Läufe wurden virtuos gemeistert. Wir trauten uns nicht, das Spiel zu unterbrechen und hineinzugehen, sondern verharrten andachtsvoll bis der letzte Ton verklungen war. Später wurden wir darüber aufgeklärt, dass da eine ausgewachsene Konzertpianistin und berühmte Tastenvirtuosin am Werke war.

Als sich schließlich die Tür des Musikzimmers öffnete, trat eine hoch gewachsene ältere Dame und mit schlohweißen Haaren und gehüllt in ein graues Seidengewand heraus. Ihren Namen haben wir vergessen. Wir hörten aber, dass man sie ehrfurchtsvoll "Beethovens Witwe" nannte.

In ihrer jahrzehntelangen Pianistinnenkarriere hatte sie sich ausschließlich Beethovens Musik gewidmet und in geradezu religiöser Hingabe seine Werke zelebriert. Weder die Sonaten Mozarts noch die Etüden und Impromptus Chopins oder auch Schuberts und Schumanns Klavierwerke konnten sie dazu verleiten, Beethoven untreu zu werden. Auch wenn sie sämtliche Sonaten Beethovens ihr ganzes Leben lang immer wieder im Konzertsaal gespielt hatte, so hatte sie den Ehrgeiz, die Sonaten nicht allein fehlerfrei, sondern in solcher Vollkommenheit wie der Komponist selbst, wenn er nicht taub gewesen wäre, zu interpretieren.

Immerzu trug sie Noten mit Beethovens Klaviersonaten mit sich herum, die sie von vorne bis hinten mit ihren Bleistiftnotizen verziert hatte. Bevor man sich ans Klavier setzt, pflegte sie zu sagen, müsse man das Notenlesen zur Perfektion gebracht haben. Soviel Zeit sie am Klavier verbracht hatte, so viele Stunden widmete sie den Noten. Immer hatte sie das Sonatenkonvolut bei sich und man könnte sie deshalb getrost zu den Büchernarren hinzuzählen. Manche spotteten, dass ihr das Notenlesen wichtiger sei als Spiel am Klavier selbst. Denn, so pflegte sie zu sagen, jede Interpretation, so perfekt sie auch sei, bedeute ja immer eine Abweichung, wenn nicht gar Verfälschung von Beethovens Musik. Gelegentlich verstieg sie sich deshalb zu dem Satz, wenn man Beethoven gerecht werden wolle, dürfe man ihn überhaupt nicht spielen, sondern nur seine Noten lesen. Aber dies bedeutete dann ja das Ende ihres Pianistinnendaseins. Und auf den Applaus des Publikums, der selbstverständlich nicht ihr, der Pianistin, sondern Beethoven, dem Komponisten gelte, wollte sie nun doch nicht verzichten.

In ihrer Wohnung konnte sie wegen der lieben unmusikalischen Nachbarn nicht mehr regelmäßig üben und deshalb suchte sie mehrmals in der Woche das Musikzimmer der Bibliothek auf. Zumal dort ein ganz vorzüglicher Steinwayflügel stand, den sie jederzeit benutzen konnte.

Einmal trafen wir sie im Erzählcafé und trauten uns, sie anzusprechen und zu ihrer Beethovenmanie zu befragen und sie kam ins Erzählen. Allein mit den späten Klaviersonaten des Meisters habe sie zwei Jahrzehnte ihres Lebens verbracht und immer wieder die Noten akribisch studiert, eingeübt und dementsprechend immer wieder neu interpretiert. Und dies habe nicht ein einziges Mal zu ihrer vollen Zufriedenheit geführt! Denn anders als beispielsweise die Sonaten Mozarts seien Beethovens Spätwerke nur mit allergrößter Anstrengung und Konzentration aufzuführen. Bei einem Konzert mit Beethovens Klaviersonaten verliere sie bis zu vier Kilogramm Gewicht. Das sei etwa so viel, wie ein Schachspieler bei einer Partie um die Weltmeisterschaft einbüßt.

Das allerkomplizierteste Klavierwerk Beethovens, so fuhr sie fort, sei seine berühmte Hammerklaviersonate op. 106, die nach wie vor als unspielbar gelte, weil sie ein irrsinniges Tempo vorschreibt. Die Interpreten stünden mithin bis heute noch immer vor der Alternative, sie fehlerfrei aber zu langsam oder aber in der gebotenen Schnelligkeit aber mit Fehlern zu spielen.

Woher man denn wisse, welches das richtige Tempo bei der Hammerklaviersonate sei, wollten wir wissen. Sie entgegnete, Beethoven habe seine späten Sonaten mit exakten Metronomangaben versehen und hierzu erzählte sie uns folgende kleine Geschichte.

Beethoven sei immer wieder mit den Aufführungen seiner Werke ausgesprochen unzufrieden gewesen. Denn die damals (und auch heute noch) üblichen italienischen Tempobezeichnungen auf den Notenblättern (Allegro, Largo usw.) waren für ihn viel zu ungenau und die Musiker hielten sich nur selten an die gewünschten Tempi. Wenn z. B. in einer Komposition ein schreitendes Andante vorgegeben war, so verschleppten sie es oftmals faul zu einem latschigen und gähnsäumigen Adagio.

Dies sollte sich nach dem Willen des Komponisten grundlegend ändern, fuhr sie fort, als er erfuhr, dass der Instrumentenbauer Johann Nepomuk Mälzel im Jahre 1815 ein sog. Metronom erfunden hatte. Beethoven war so begeistert, dass er für Mälzel eigens ein kleines Loblied komponierte. ("Ta ta ta, lieber Mälzel!", leben Sie wohl!)

Das Metronom, so erklärte sie uns, sei ein mechanisches Gerät, das ähnlich dem Pendelschlag einer Uhr den jeweils eingestellten Rhythmus exakt akustisch wiedergibt. Mit dem Metronom ging es Beethoven vor allem darum, Schludrigkeiten und Verschleppungen im Spiel zu beseitigen. Doch dies gefiel vielen Orchestermitgliedern überhaupt nicht, weil es mehr Arbeit bedeutete. Sie mussten nun genauer und exakter spielen. Aber am allerschlimmsten war es, dass nun auch meist ein schnelleres Tempo diktiert wurde. Das hatte für die Musiker zwar den Vorteil, dass man mit der Arbeit schneller fertig war und sich wieder dem Biertrinken und dem Skatspielen hingeben konnte. Aber es bedeutete andererseits eine höhere Leistungsanforderung. Denn es ist ja auch ein Unterschied, ob ein Sportler die Hundertmeterstrecke in 10 Sekunden oder in 16 Sekunden läuft.

In Überlieferungen aus der damaligen Zeit wurde berichtet, dass sich gegen diese Schnelligkeitszumutungen bald massiver Widerstand der Musiker formiert habe, der geradezu handgreifliche Formen angenommen haben soll. Der Maschinensturm in England sei, so heißt es, offensichtlich das Vorbild für den Kampf gegen das Metronom gewesen. In nur einem Jahr sollen in Wien und Umland 741 Metronome zerstört oder zwangsweise zu Tischuhren umgebaut worden sein. Weitere sollen auf dem Scheiterhaufen ihr Ende gefunden haben.

Ob sich diese Geschichte nun tatsächlich so abgespielt hat, fuhr sie fort, oder den Wunschträumen frustrierter Musiker entstammt, lasse sich heute freilich nicht mehr eindeutig überprüfen. Aber ihr selbst sei, bei aller gebotenen Beethovenwerktreue ihr Metronom mit seinen diktatorischen Tempovorschriften auch schon gewaltig auf die Nerven gegangen. Einmal habe sie es in ihrer Wut gegen die Wand geworfen, so dass es zerbrach. Aber dies solle, so die berühmte Klaviervirtuosin, bitte unter uns bleiben und nicht in die Öffentlichkeit geraten.

© Dr. Hans-Albert Wulf, Mai 2023.


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2023/05/21


Fliederzeit


flieder
Weißer Flieder (Syringa vulgaris) fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/05/17


Jan Vermeer van Delft, 1632-1675
Das Mädchen mit dem Perlenohrring, 1665


vermeer


Das Gemälde »Meisje met de parel« ist mit Öl auf Leinwand gemalt und 45 cm x 40 cm groß.
Quelle: Wikimedia Commons.

Das Bild wird auch "Die Mona Lisa des Nordens" genannt.
Turbane waren im 17. Jahrhundert eine verbreitete Mode, da die Türken nach Europa vordrangen.
Das Bild ist minimalistisch, es gibt keinen Vordergrund und keinen Hintergrund, nur das Portrait.
In der Fachsprache der Kunstgeschichte handelt es sich um ein Tronie Portrait.
Was ist an dem Bild barock? Vor allem die große Perle und der Turban.
So eine große Perle war damals sehr wertvoll, was auf Wohlstand hindeuten soll.
Das 17. Jahrhundert wird das Goldene Zeitalter der Niederlande genannt.

Was ist in dem Bild noch zu entdecken?
Das Sonnenlicht kommt von links, wie in den meisten Bildern von Jan Vermeer.
Die Komplementärfarben Blau und Gelb sind dominant. Diese Farben hat Vermeer öfter verwendet. Zufällig sind das auch die Nationalfarben der Ukraine, und daher wegen des Ukrainekriegs überall heute präsent.
Die Augenbrauen sind ausgezupft, was der damaligen Mode entsprach. Die Kopfhaare sind unter dem Turban versteckt.
Die Augen sind groß und sehen den Betrachter direkt an. Die Nase ist ziemlich lang. Die Lippen erscheinen zu rot, so dass man an Lippenstift denkt.
Durch den weißen Kragen wird das Gesicht hervorgehoben.

Die Farbpigmente für das Ultramarinblau des Turbans stammen aus Afghanistan und waren damals sehr wertvoll.
Die Farbpigmente für das Karminrot der Lippen stammen von den Cochenilleläusen, die auf dem Feigenkaktus in Mexiko lebten.
Das zeigt, dass die Handelsbeziehungen damals schon sehr weit gespannt waren.

Bleibt die Frage, wer das Mädchen auf dem Bild ist?
Manche meinen, dass es die Tochter von Jan Vermeer, Maria Vermeer ist. Das wäre am naheliegendsten.
Jan Vermeer hätte auf die Rückseite der Leinwand schreiben können.
"Das ist ein Bild meiner Tochter Maria Vermeer."
Das hätte ihn nur 1 Minute gekostet. Aber das hat er nicht getan. Maler schreiben in der Regel keine Sätze, sondern malen nur.
Und so wird das Rätsel um die Identität des Mädchens wohl ungelöst bleiben.

Die Stadt Delft besitzt heute kein Gemälde von Jan Vermeer mehr. Alle Gemälde wurden schon im 19. Jahrhundert verkauft.
»Das Mädchen mit dem Perlenohrring« hängt normalerweise im Mauritshuis in Den Haag/Niederlande.
Jetzt ist es aber in der großen Vermeer-Ausstellung im Rijksmuseum in Amsterdam zu sehen, bis zum 4. Juni 2023.
Dort werden 28 der 37 bekannten Werke von Jan Vermeer gezeigt.
Leider ist die Ausstellung schon ausverkauft, weil alle einmal im Leben den ganzen Jan Vermeer sehen wollen.
Aber auf der Webseite des Rijksmuseums gibt es eine ausführliche Tour zu allen Gemälden Vermeers mit vielen Erklärungen. Dadurch erfährt man wahrscheinlich mehr über die Bilder als bei einem Museumsbesuch.
Übrigens lohnt es sich, auch den Spielfilm »Das Mädchen mit dem Perlenohrring« anzuschauen. Der Film ist von dem Regisseur Peter Webber, aus dem Jahr 2003.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/05/14


Vor 90 Jahren:
Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933
durch die deutschen Faschisten


buecherverbrennung
Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933.
Quelle: Wikimedia Commons.
Bundesarchiv, Bild 102-14597 / Georg Pahl.


Zur Erinnerung an die Bücherverbrennung hier eine Stellungnahme eines verbrannten Dichters:

»Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.«

Bertolt Brecht


Seht bitte auch den Artikel "Die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933" vom 2017/05/10 auf kuhlewampe.net.


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2023/05/11


Maiglöckchenzeit


maigloeckchen
Maiglöckchen (Convallaria majalis) fotografiert von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/05/07


Dagmar Sinn
150 Jahre Villa Hügel, Teil II
Zur Geschichte der Villa Hügel und ihrer Bewohner


krupp3
Manschettenknöpfe aus Draht, Handarbeit von Alfried Krupp,
entstanden während seiner Haft in der Gefängnisschlosserei 1950.
Fotografiert von Dagmar Sinn in der Historischen Ausstellung in der Villa Hügel.


1911 bestand die Firma Krupp 100 Jahre. Man feierte dieses Ereignis jedoch zu Ehren des Firmengründers Alfred Krupp an seinem hundertsten Geburtstag ein Jahr später. Im August 1912 veranstaltete die Firma ein pompöses Fest, das Gustav Krupp von Bohlen und Halbach zur prunkvollen Selbstdarstellung des Konzerns und der Familie nutzte. Kaiser Wilhelm II. war mit den Spitzen von Regierung und Militär selbstverständlich auch unter den Gästen. Die Familie Krupp spendete anlässlich des Jubiläums 14 Millionen Mark, die Jahreslohnsumme von 10.000 Metallarbeitern. Die Firma war auf dem wirtschaftlichen Höhepunkt. Argwöhnisch registrierten die meisten Staaten Europas die imperiale Politik Deutschlands und das Auftreten des Kaisers. Nicht ohne Grund wurde die Firma Krupp mit deutscher Aufrüstung in einem Atemzug genannt. In Deutschland wurde die "Dicke Berta" entwickelt, ein 42 cm-Steilfeuergeschütz und angebliche Wunderwaffe mit hoher Durchschlagskraft. Sie wurde 1914 in Belgien eingesetzt. Woher der Name "Dicke Berta" rührt, ist ungeklärt geblieben.

Die "Kanonenstadt" war stolz auf ihre Waffenproduktion. Während des Ersten Weltkrieges hatte die Friedrich Krupp AG mittlerweile rund 167.000 Beschäftigte. Viele Frauen und Kriegsgefangene wurden eingesetzt. Mit dem Rüstungsplan "Hindenburgprogramm" von 1916 entstanden neue ausgedehnte Fabrikanlagen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 musste Krupp die Zerstörung der meisten Fabrikanlagen und Maschinen akzeptieren. Der Friedensvertrag von Versailles verbot künftig fast die gesamte Rüstungsproduktion. Unter der Hand kooperierte der Konzern aber mit Firmen aus dem Ausland, die Waffen nach Krupp'schen Plänen und Ingenieuren produzierten. Um die Arbeiter weiter zu beschäftigen, wandte sich Krupp neuen zivilen Fabrikationszweigen zu. Herstellung und Verarbeitung von Stahl blieb aber der wichtigste Geschäftsbereich. Es wurden Lastwagen, Lokomotiven und Bagger, aber auch beispielsweise medizinisches Gerät aus Edelstahl produziert. Ab Mitte der 20er Jahre wurden aber auch Pläne für Panzer entwickelt, getarnt als landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge. Trotzdem musste die Firma mit der Inflation, mit der Weltwirtschaftskrise und Massenentlassungen kämpfen.

Die Rolle als Waffenschmiede Deutschlands übernahm Krupp auch im 2. Weltkrieg. Wieder wurden Geschütze, Panzerteile und U- Boote produziert. Gustav Krupp von Bohlen und Halbach leitete das Unternehmen bis 1943, als er krankheitsbedingt ausscheiden musste. Mehr als 30 Jahre steuerte er die Firma in den wechselvollen Zeiten des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und der Hitlerdiktatur. Zunächst hatte er den Nationalsozialisten skeptisch gegenüber gestanden. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begrüßte er die wirtschaftliche Stabilisierung und die wieder erlangte außenpolitische Stärke Deutschlands. Als Konservativ-Nationaler arrangierte er sich schließlich, auch aus steuerlichen Gründen, mit dem NS-Regime. Immerhin blieben Vorstand und Aufsichtsrat frei von Parteifunktionären.

Alfried von Bohlen und Halbach (1907-1967), sein ältester Sohn und Nachfolger, war da unbekümmerter. Von ihm wissen wir, dass er 1931 förderndes Mitglied der SS wurde. In der Familie Krupp war das Regatta-Segeln Tradition, und er gewann mit der Familienyacht "Germania III" und seiner Crew bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin Bronze in der 8 Meter Bootsklasse von Rennsportyachten. Wie viele Krupps hatte er auch künstlerische Talente und war ein begeisterter Fotograf. Von Jugend an wurde er hart auf die Unternehmens-Nachfolge vorbereitet. Nach seinem Ingenieurstudium in München, Berlin und Aachen trat er 1935 in die Firma ein.1938 wurde er Mitglied in der NSDAP. 1943, mitten im Krieg, musste er die Nachfolge antreten. Um die Sollzahlen des Rüstungsministeriums zu erfüllen, wurden Arbeiter aus dem Ausland beschäftigt. Viele Kriegsgefangene aus dem Osten, Verschleppte, auch Häftlinge aus Konzentrationslagern schufteten unter unmenschlichen Bedingungen für die Firma. Etliche Pässe von ganz jungen Männern und Frauen sind erhalten.

Nach Kriegsende wurde er als Alleininhaber des Konzerns 1945 zusammen mit elf Krupp Direktoren von einem US-Militärgericht als Kriegsverbrecher zu 12 Jahren Haft verurteilt wegen Plünderung besetzter Gebiete und Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Sein gesamtes Vermögen wurde konfisziert. Sein verhandlungsunfähiger Vater entging einer Bestrafung. Ein Großteil der Kruppwerke wurde demontiert.

Gustav und Bertha Krupp wurden 1946 die Ehrenbürgerrechte der Stadt Essen aberkannt. Das im Krieg kaum beschädigte Anwesen der Villa Hügel diente ab 1945 als Sitz der alliierten Kohlekommission mit fast 1.300 Mitarbeitern. Im Juli 1952 wurde es der Familie zurückgegeben, die es jedoch nie wieder als privaten Wohnsitz nutzte.

1951 wurde Alfried Krupp begnadigt, erhielt sein Vermögen zurück und durfte ab 1953 wieder die Leitung der Firma übernehmen. Die Stadt Essen lag ebenso wie die Firma Krupp in Trümmern, und die Überlebenden waren auf die "Waffenschmiede der Nation" nicht gut zu sprechen. Es war ein Glücksfall, dass Alfried Krupp 1952 den Manager Bertold Beitz für den Wiederaufbau zu seinem Generalbevollmächtigten machte, anstelle wie zunächst geplant, die Firma zu verkaufen. Beitz stammte aus Pommern, war aktiver Kriegsteilnehmer und rettete durch eine List vielen hundert Juden das Leben. Er schlug der Familie vor, das Areal der Villa Hügel für Kunstausstellungen zu nutzen. Die Essener wollten aber vor allem nach der Freigabe die privaten Wohnräume der Familie Krupp mit allem Luxus kennen lernen und besichtigen. In den 1960er Jahren wurde dann nicht zuletzt durch Bertold Beitz der Ruf der Familie besser. Da es nach dem Krieg wenige repräsentative Adressen in der noch jungen BRD gab, wurde gerne von den Räumlichkeiten für eingeladene Staatsoberhäupter Gebrauch gemacht. Später hatten dann auch Kunstausstellungen im angegliederten Kleinen Haus der Villa Hügel Erfolg. Die überflüssig gewordenen Wirtschaftsgebäude und Wohnhäuser im Umkreis der Villa wurden im Zuge der neuen Nutzung abgetragen. Der Hügelpark erhielt engere Grenzen, die äußeren Teile wurden als Krupp- bzw. Stadtwald öffentlich zugänglich.

Arndt von Bohlen und Halbach (1938-1986), der einzige Sohn, der 1938 in Berlin-Charlottenburg geboren wurde, war zunächst als Firmenerbe und Nachfolger vorgesehen und studierte in Freiburg und München Betriebswirtschaft und Jura. Da er wenig Neigung und Eignung hatte ("arbeiten, das hat mir gerade noch gefehlt") überzeugte ihn Bertold Beitz, auf sein Erbe gegen Zahlung von 2 Millionen DM Unterhalt jährlich zu verzichten. So wurde der Weg in die gemeinnützige Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung frei, das Vermächtnis des letzten Alleininhabers. Seit 1968 fördert die Krupp Stiftung als größte Aktionärin der heutigen thyssenkrupp AG gemeinnützige Projekte aus Wissenschaft und Kultur, Bildung, Gesundheit und Sport.

1999 fusionierte die Firma Krupp mit Thyssen zur thyssenkrupp AG. Sie hat heute in 48 Ländern 96.000 Mitarbeiter und ist vielseitiger Zulieferer für Maschinen- und Industrieanlagen, Schiffbau, Luftfahrt, Automobilindustrie, Energieerzeugung und Verteilung, Technologiepartner in den wichtigsten Öl- und Gaswerken. Als Rüstungsunternehmen baut thyssenkrupp aktuell vor allem U-Boote und Kriegsschiffe.

Quellen:
Historische Ausstellung Krupp - Villa Hügel in Essen
Historisches Portal Essen
www.planet-wissen.de

© Dagmar Sinn, Mai 2023.


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Der Saal im ersten Stock der Villa Hügel.
Foto von © Dagmar Sinn, April 2023.


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2023/05/04


Dagmar Sinn
150 Jahre Villa Hügel, Teil I
Zur Geschichte der Villa Hügel und ihrer Bewohner


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Die Villa Hügel der Familie Krupp in Essen, fotografiert von der Baldeneyseeseite.
Das größte Einfamilienhaus des Deutschen Reiches.
Foto von © Dagmar Sinn, März 2023.


Seit 150 Jahren ist die Villa Hügel in Essen Symbol der Geschichte des Ruhrgebiets, Deutschlands und der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Als sie erbaut wurde war sie mit 269 Zimmern und über 8.000 qm Wohnfläche das größte "Einfamilienhaus" des Deutschen Reiches, das wie ein Schloss über dem Baldeneysee thronte. Sie ist Zeugin von 150 Jahren Aufbau und Wohlstand der Familie Krupp und ihrer Firma, erlebte aber auch Tod, Verderben und Zerstörung während der beiden Weltkriege.

Ihr Bauherr, Alfred Krupp (1812-1887), übernahm 1826 mit Hilfe seiner Mutter im Alter von nur 14 Jahren die kleine Gussstahlfabrik seines früh verstorbenen Vaters. In den folgenden Jahrzehnten baute er sie zu einem internationalen Großunternehmen mit über 20.000 Beschäftigten auf.

1864 kaufte er das Anwesen "Klosterbuschhof" in ländlicher Umgebung an der Ruhr. Er ließ das 28 Hektar große hügelige Ackergelände mit ausgewachsenen heimischen Bäumen bepflanzen. Gemeinsam mit seinen Hausarchitekten und Gärtnern entwickelte er eigene Entwürfe für ein Parkgelände. Nach dem Bau der Villa 1870-1873 entstanden als sein Altersprojekt südlich des schlossähnlichen neoklassizistischen Gebäudekomplexes Terrassengärten, schattenspendende Laubengänge, Wasserflächen und Aussichtspunkte auf den Ruhrstausee zu Füßen des Areals.

Seine Villa, die als Wohnhaus und vor allem repräsentativen Zwecken dienen sollte, ließ er, um Feuer zu vermeiden, aus Eisen und Stahl errichten. Er war besessen von der Idee, alle Räume individuell mit einer Klimaanlage zu beheizen. Da er Unternehmer war und kein Ingenieur, misslang sein ehrgeiziges Vorhaben, und erst nach langen Jahren funktionierte alles. Seine wesentlich jüngere Frau Berta, die er nur einen Monat nach dem Kennenlernen heiratete und mit der er das einzige Kind Friedrich Alfred hatte, verließ genervt die Villa und ging lieber in Kur, um dort ihre angegriffene Gesundheit wiederherzustellen.

Im Gegensatz zu seinem Familienleben - er beschrieb seinen Charakter wie folgt "Meine Ungeduld ist ein Crocodil - das lässt sich nicht bezähmen" - hatte er beruflich großen Erfolg. Bei der ersten Weltausstellung 1851 in London präsentierte er den größten Gussstahlklotz und übertrumpfte damit die Engländer, sowie eine Kanone aus Gussstahl, der ja keine deutsche Erfindung war. Der Engländer Benjamin Huntsman hatte nämlich schon 1740 den ersten coast steel, den gegossenen Stahl, in einem Tiegel hergestellt.- Im Jahre 1853 erfindet Alfred Krupp das von ihm patentierte nahtlose Eisenbahnrad. Drei Räder sind auch das Firmenzeichen. Der Siegeszug der Eisenbahn ließ sich nicht mehr aufhalten.

Seit den 1850er Jahren galt Krupp als Vorbild der betrieblichen Sozialpolitik. Bereits 1836 wurde die "Hülfskasse in Fällen von Krankheit und Tod" gegründet. Alfred Krupp ließ seinen Beschäftigten patriarchalische Fürsorge zukommen, er schuf preiswerte Arbeitersiedlungen und billige Einkaufsmöglichkeiten in der "Konsum-Anstalt", setzte aber auch Kontrolleure ein, damit alles in seinem Sinne funktionierte. Wer beispielsweise eine sozialdemokratische Zeitung bezog riskierte seine Kündigung.

Über die Wohnqualität in der Villa Hügel konnte man schon damals unterschiedlicher Meinung sein. Privat war Alfred Krupp bescheiden, seine knappe Freizeit widmete er der Musik und dem Theater. Das änderte sich als die nächste Generation die Villa bezog: Der einzige Sohn und Nachfolger Friedrich Alfred Krupp (1854-1902) und seine Frau Margarethe statteten die Villa mit zahlreichen Holzvertäfelungen, flämischen Wandteppichen und damals sehr luxuriösen Gästezimmern aus. Für die Familie, aber auch für die zahlreichen Gäste, entstanden Tennisplätze, Reitanlagen und Ställe, Lese- und Spielzimmer, sogar ein Gesellschaftshaus mit Kegelbahn und Bibliothek.

Friedrich Alfred Krupp hatte bereits seit 1872 in der Firma mitgearbeitet, war mit der Welt des industriellen Großbürgertums vertraut und wusste, was ihn erwartete: das Firmeninteresse stand immer an erster Stelle. Sein Vater traute ihm, dem kränkelnden, schüchternen Sohn nicht zu, ein vollwertiger Nachfolger zu sein, womit er sich gründlich irrte. Friedrich Alfred erlebte die Gründung des Deutschen Reiches (vermutlich siegten die Preußen u. a. durch die Überlegenheit der Gussstahlkanonen seines Vaters gegen die Franzosen mit ihren Bronzekanonen) und führte das Unternehmen sehr erfolgreich weiter durch ein neues Hüttenwerk in Rheinhausen, das hauptsächlich für die Rüstungsindustrie produzierte. Die Arbeiterzahl stieg auf 45.000. Auch er engagierte sich auf sozialem Gebiet, z. B. mit der Siedlung Altenhof in Essen-Rüttenscheid, in der ehemalige Werksangehörige als Rentner kostenlos wohnen konnten. Außerdem gab es Spareinrichtungen und Sport- und Bildungsprogramme. 1893 kam das Grusonwerk in Magdeburg dazu und 3 Jahre später die Germaniawerft in Kiel. Mit seiner Frau Margarethe Freiin von Ende hatte Friedrich Alfred Krupp 2 Töchter, von denen die ältere, Bertha, noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Seinen Töchtern ließ er unterhalb der Villa Hügel ein kleines Fachwerkhaus zum spielerischen Erlernen hauswirtschaftlicher Fähigkeiten errichten, das so genannte Spatzenhaus.

Friedrich Alfred Krupp hatte viele naturwissenschaftliche Interessen, vor allem in den Bereichen Geologie und Paläontologie. Seine umfangreiche Sammlung wurde nach 1945 dem Ruhrlandmuseum in Essen übergeben. Zur Erholung und für wissenschaftliche Studien weilte er ab 1899 regelmäßig auf Capri. Er arbeitete am ersten Meeresforschungsinstitut der Welt am Golf von Neapel und entdeckte 27 neue Arten mariner Kleinlebewesen. Es kam zum Skandal, als man ihm vorwarf, in einer Höhle seinen angeblichen homosexuellen Neigungen nachzugehen. Besonders aktiv waren die italienische Zeitung "Propaganda" und der "Vorwärts", die Zeitung der Sozialdemokraten. Eine Woche später, am 22. November 1902, starb Friedrich Alfred Krupp in der Villa Hügel an einem Gehirnschlag. Das war die offizielle Version, ein Selbstmord und eine homosexuelle Neigung wurden nie bewiesen. Kaiser Wilhelm II. gab den Sozialdemokraten die Schuld am Tod des Industriellen. Er persönlich führte am 26. November 1902 einen gigantischen Trauerzug in Essen an.

Auf diese Weise wurde die älteste Tochter Bertha (1886-1957) mit erst 16 Jahren die Alleinerbin und begehrteste Junggesellin Europas. Die Firma wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt.1906 heiratete Bertha den Diplomaten Gustav von Bohlen und Halbach (1870-1950). Es lag im Interesse des Kaisers, der sich der Familie freundschaftlich verbunden fühlte und öfter in der Villa Hügel zu Gast war, dass der Name Krupp erhalten blieb, und er bestimmte per Dekret, dass der jeweilige Alleininhaber den Namen Krupp von Bohlen und Halbach tragen durfte.

Aus Anlass der Hochzeit stiftete Berthas Mutter, Margarethe Krupp, die Wohnsiedlung Margarethenhöhe im Süden von Essen als Sozialsiedlung, die ab 1910 gebaut wurde. Noch heute ist sie eine Gartenstadt mit hoher Wohnqualität, Cottagehäusern mit Jugendstilelementen und kleinen Gärten, eine andere Welt in der Ruhrmetropole Essen, die ursprünglich nicht nur Angehörigen der Firma Krupp zugedacht war.

Bertha und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach hatten 8 Kinder, ein Sohn starb bald nach der Geburt und zwei weitere auf tragische Weise im 2. Weltkrieg. Bertha kümmerte sich um die Familie und die zahlreichen Gäste aus dem In-und Ausland. Sie behielt auch Einfluss auf Grundsatzentscheidungen innerhalb der Firma. Ihr Ehemann Gustav war von 1909 bis 1943 Aufsichtsratvorsitzender der Firma. Sie hatten in der Villa 650 (!) Bedienstete. Die Kinder wuchsen ohne emotionale Nähe auf, denn die Eltern hatten nicht viel Zeit für sie. Wollten sie ihre Mutter oder ihren Vater außerhalb festgesetzter Zeiten sprechen, mussten sie einen Termin anmelden.

Der Hügel war bis 1945 nicht ausschließlich privater Wohnbereich, sondern man musste ihn sich als eigenen Wirtschaftsbetrieb vorstellen, eine kleine "Stadt in der Stadt". Um 1900 gliederte sich die Hügelverwaltung in die Bereiche "Allgemeine Verwaltung, Baubüro, Hauswirtschaft, Hofstall, Gärtnerei, Ökonomie, Forst- und Jagdverwaltung". Im Zentrum des Hügels stand die Villa. Um sie herum gruppierten sich Wirtschaftsgebäude, Freizeiteinrichtungen für die Familie Krupp und Wohnungen für Bedienstete. An der Ruhr befanden sich das Gas- und Wasserwerk, eine Restauration und ein Bootshaus. 1890 erhielt der Hügel unterhalb der Villa einen Bahnhof. So konnte der Kaiser bequem anreisen - noch heute gibt es an der Stelle eine S-Bahn Station Villa Hügel. Eine Telegrafenstation, eine Telefonanlage und eine Poststelle gab es bereits lange vor 1900. Im Norden entstand die Krupp-Siedlung "am Brandenbusch" für die zahlreichen Bediensteten. Um 1920 gehörten etwa 140 Gebäude zum Hügel.

© Dagmar Sinn, Mai 2023.


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Fotografiert von Dagmar Sinn in der Historischen Ausstellung in der Villa Hügel.


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2023/05/01


Eine sonnige Maienzeit wünscht kuhlewampe.net


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El Lissitzky (1890-1941):
Schlag die Weißen mit dem roten Keil, 1919.


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2023/04/30


vorschau05


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2023/04/26


Atomkraft? Nein Danke!


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Historisches Foto: Die Anti-AKW-Gruppe an der Freien Universität Berlin,
in Gorleben/Wendland, Juni 1978.


An die 50 Jahre haben wir jetzt gegen die radioaktive Verseuchung von Deutschland gekämpft. Und was haben wir erreicht? Die Energiekonzerne haben 50 Jahre lang Milliardenprofite für ihre reichen Anteilseigner eingestrichen und sind alle Millionäre geworden, mit dem Betrieb ihrer AKWs (Atomkraftwerke). Und wir sind 50 Jahre lang als Ökospinner bezeichnet worden. In Deutschland liegt ein riesiger Berg von Atommüll herum, der noch 1 Million Jahre radioaktiv strahlt. 1 Million Jahre! Das kann man sich kaum vorstellen. Die Verantwortlichen werden wohl nie zur Rechenschaft gezogen werden. Hat sich unsere Mühe gelohnt? Wohl kaum.

Naja, die letzten 3 deutschen AKWs sind am 15. April 2023 abgeschaltet worden, das AKW Isar 2 in Bayern, das AKW Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und das AKW Emsland in Lingen/Niedersachsen. Das war doch ziemlich spät? CDU/CSU, FDP und AfD wollten die Atomkraftwerke weiterlaufen lassen. Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 waren deutliche Ereignisse, vor denen wir immer gewarnt haben. Aber in den Ländern um Deutschland herum laufen die AKWs munter weiter oder werden neu gebaut. Unsere französischen Nachbarn betreiben viele AKWs, die marode sind und riesige Mengen von Atommüll produzieren. Die Radioaktivität kann mit der Luft auch nach Deutschland getragen werden. Und die Europäische Union hat diese radioaktive Verseuchung auch noch auf französischen Druck hin als nachhaltig klassifiziert. Warum lernen die Leute nichts aus der Geschichte? Es gibt doch andere Möglichkeiten der Energieerzeugung, einige erneuerbare Energiequellen.

Das Atomzeitalter in Deutschland ist nicht beendet, schon wegen des fast ewig strahlenden Atommülls. Außerdem werden in Deutschland weiterhin Brennelemente für den Export produziert. Die Atomindustrie macht also munter weiter. Und die CSU in Bayern will ihre AKWs jetzt in Länderregie weiterlaufen lassen.

In 50 Jahren hat sich auch nichts an der atomaren Bedrohung und an der Produktion von Atombomben geändert. Wir werden weiterhin immer von Atomraketen bedroht. Konkret von russischen Atomraketen, die mit Überschallgeschwindigkeit zu uns fliegen können. Immer mehr Länder möchten gern Atombomben haben, weil die anderen sie auch haben. Warum ist die Menschheit so dumm, und kann Atombomben nicht abschaffen? Eine rhetorische Frage. Das ist doch permanenter Terror und kostet Milliarden an Rüstungsausgaben. Was hat es gebracht, dass wir jahraus jahrein auf den Ostermärschen gegen die Atombomben demonstriert haben? Gar nichts.

Trotz alledem sollte man nicht aufgeben zu kämpfen, auch wenn die Bilanz niederschmetternd ist und die Mehrheit einen verlacht. Weitermachen! Irgendwann wird es vielleicht mal Fortschritt geben, vielleicht in 100 Jahren, vielleicht in 1.000 Jahren? Oder auch nicht. Vielleicht ist dann alles zu spät. Too little too late. Greta Thunberg hat schon gewarnt, dass es 5 vor 12 ist.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/04/23


Erinnerung an Georg Elser
Hermaringen/Württemberg 4. Januar 1903 - erschossen im KZ Dachau 9. April 1945


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Denkmal für Georg Elser in Berlin Mitte, Wilhelmstraße.
Skulptur von Ulrich Klages, 2011, die nachts leuchtet.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, Juni 2014.


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2023/04/19


Zwiespältige Situation
Die BIOFACH 2023 und die Situation der Biobranche
von Georg Lutz, Freiburg


Die erste Messe, auf der sich in Deutschland Bio- und Fair-Produkte und ihre Anbieter präsentierten, hatte den Zeitgeistnamen "Müsli83". Der Frankfurter Körnerevent war auch der Rahmen für die Bildung eines ersten Naturkostverbandes - heute Bundesverband Naturkost Naturwaren e.V. (BNN). Damals standen in den Wohngemeinschaften noch viele Handmühlen, mit denen das Müsli selbst produziert wurde. Die Zielgruppen der ersten Bio-Läden waren überschaubar. Die Waren stapelten sich in den Läden unscheinbar auf alten Ikea-Regalen. Marketing war verpönt. Man wollte mit anderem Anbauen, Arbeiten und Essen nicht weniger wie die Welt verändern. Über diese moralischen Ansprüche konnten die gestandenen Manager der klassischen Lebensmittelbranche nur lächeln.

Heute hat sich das Bild komplett gedreht. Die BIOFACH VIVANESS (Naturkosmetik) ist im Februar 2023 eine globale Leitmesse mit 2.765 Ausstellern aus 95 Ländern. Man will immer noch die Welt verbessern, der Sound ist aber ein ganz anderer. Die Trends auf der BIOFACH 2023 heißen "New Glocal", "Vegan meets Tradition", "Less is More" sowie "New Sweeteners". Damit können die klassischen Manager, genauer gesagt ihre Nachfolger*innen gut umgehen. Inzwischen gönnt sich fast jeder große Player der Branche eine Bio-Linie. Lidl vertreibt Produkte mit dem Bioland Siegel und bei Edeka findet man Demeter Bananen. Auf der BIOFACH finden Besucher*innen heute einen Rewe Stand. Das ist auch kein Wunder. Die Gewinnmargen im klassischen Lebensmittelhandel sind im Vergleich zu anderen Branchen tief. Mit den Bio-Linien kann man aber mehr Geld verdienen und inzwischen gibt es auch größere Zielgruppen, die Bio-Ware verlangen. Darunter leiden aber klassische kleine Bioläden, da sie nicht die Marktmacht haben, um gegenüber den Big Playern konkurrenzfähig zu bleiben. Ja, es gibt innovative neue Player auf dem Markt. Oftmals werden sie aber schnell von großen Akteuren geschluckt. Ein Beispiel ist die Gläserne Molkerei in Brandenburg, die von Emmi aus der Schweiz aufgekauft wurde.

Die Folge: Die früheren Ziele von Bio verblassen, da es zunehmend um Marketingversprechen geht und Greenwashing immer als Gefahr lauert. Jetzt drängen neue Label, die den Klimawandel (Planet-Score) oder die Lieferketten im Blick haben, auf den Markt. Das ist zu begrüßen. An der Entwicklung dürfte das aber wenig verändern. Die Kleinen der Branche stehen vor der Herausforderung, sich neu erfinden zu müssen.

Die Zahlen der letzten Jahre sehen auf den ersten Blick beeindruckend aus. Der Bio-Umsatz liegt im Jahr 2022 bei 15,3 Milliarden Euro und somit 25 Prozent über dem Vor-Corona-Jahr 2019. Jeder siebte Hof wirtschaftet 2022 ökologisch. Mit einem Plus von 3,5 Prozent gibt es nun 36.548 Bio-Höfe in Deutschland. Die Bio-Flächen steigen um 3,7 Prozent auf 1.869.227 Hektar (1). Das ist eine Erfolgsgeschichte, die es auch zu würdigen gilt - allerdings nur als eine Zwischenetappe.

Das letzte Jahr bescherte den bislang kontinuierlichen Wachstumszahlen einen herben Dämpfer. Zu Corona-Zeiten boomten Bio-Lebensmittel, gerade Online-Anbieter konnten zulegen. Das letzte Jahr mit der Energiekrise, Krieg und steigenden Inflationszahlen schüttelte die Branche durch. Sie schrumpfte um 3,5 Prozent. Wie dünn die Decke ist, beweist die Insolvenz der Ladenkette Basic im Dezember 2022, die sich unter ein Schutzschirmverfahren gestellt hat.

Ohne Frage, Bio-Anbau ist teurer - weil er Umweltschäden vermeidet. Die konventionelle Landwirtschaft bürdet beispielsweise Trinkwasserschäden einfach dem Steuerzahler auf. In einem Wettbewerb mit so unterschiedlich langen Spießen kann Bio nicht gewinnen. Zudem verhindert Bio alleine nicht das Artensterben. Der Feldhamster kommt nicht zurück, nur weil wir Bio auf dem Teller haben. Da gilt es noch an ganz anderen Rädern zu drehen.

Was ist in der Praxis zu tun? Die Koalitionsvereinbarung der Ampel hat sich ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Es gilt bis 2030 30 Prozent Öko-Landbau zu erreichen. Cem Özdemir als Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft hofft auf einen Bio-Boom durch uns als Konsumenten. Rhetorisch ist er richtig unterwegs. Nur, das wird nicht reichen. Die Politik muss andere Rahmenbedingen setzen und nicht immer die Verantwortung auf Einzelne delegieren. Erstens gilt es, die Umstiegs-Prämien für Bäuer*innen zu erhöhen. Bauern sind an Bord zu holen, ohne sie geht es nicht. Zweitens sollte die Mehrwertsteuer für Fair und Bio runter. Die Kostenwahrheit der konventionellen Landwirtschaft muss auf den Tisch. Im Hintergrund hat sich die EU-Landwirtschaft noch immer nicht von ihrer alten Parole "Wachsen oder Weichen" verabschiedet. Diese sollte aber endlich auf den Müllhaufen der Geschichte. Allerdings ist die Lobby, die genau dies verhindert, sehr mächtig.

Anmerkung:
(1) Zahlen aus der Presserklärung von BÖLW (Bund Ökologische Landwirtschaft) auf der BIOFACH.

© Georg Lutz, April 2023.

Georg Lutz ist Politologe und Journalist und hat sich in den letzten 20 Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen mit der Bio-Branche beschäftigt.


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2023/04/16


Alfons Mucha, 1860 - 1939
Frühling, 1896


mucha
Öl auf Holz. Quelle: Wikimedia Commons.


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2023/04/14


Dagmar Sinn
Alles wird gut


Fehlt mir der Mut -
alles wird gut.
Spüre ich Wut -
alles wird gut.

Ach, nur drei Worte
der freundlichen Sorte,
lächelnd gesagt,
nicht hinterfragt,
schnell will man gehen,
auf Wiedersehn!

Und frag ich m i c h -
n i c h t s ändert sich!
I c h bin die Veränderung:
mutig, wütend, auf dem Sprung.
Will ab heut' nach vorne sehn,
achtsam meine Wege gehen.
Wird alles gut?


© Dagmar Sinn, April 2023.


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2023/04/13


Die Vulkaninsel Corvo der Azoren/Portugal


corvo


Vulkaninsel Corvo.
"Es war ein Tagesausflug, und wir sind abgestiegen und zu dem Kratersee gewandert. Im Inneren grasen schon mal Kühe und Pferde. Die graublauen Streifen im Foto sind Hortensienhecken."
Foto von © Dagmar Sinn, August 2017.


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2023/04/10


Wolfgang Weber
Der Schaschlik


Den Spieß umdrehen, also den Döner.

Ist ganz schön teuer geworden, wie so manches. Natürlich gibt es wie immer viele mögliche Ausreden, warum.

Materialkosten, Personal, Angebot und Nachfrage.

Die Inflationsrate betrage nur zehn Prozent. Allerdings ist einiges deutlich teurer geworden als nur zehn Prozent. Etwas, das billiger geworden ist, muss man sehr sehr lange suchen.

Ja, es gibt Artikel; die vorübergehend, für ein paar wenige Tage etwas günstiger zu bekommen sind, groß in der Werbung herausgestellt.

Nach Ablauf des Zeitraums werden solche Artikel aus der Werbung wieder so teuer, wie sie zuvor waren.

In der Werbung, aus der Werbung.

Wie drehe ich den Spieß um, ja wie drehe ich ihn um? Sagt es mir.

Wo ich Preise zu unverschämt finde, da drehe ich ihn um, so wie ich sonst den Schlüssel umdrehe.

Ganz schnell bin ich wieder fort und lasse den Artikel stehen oder liegen.

An manchen Imbissen gibt es Schlangen von mehr oder weniger geduldigen Leuten, die darauf warten, dass sich der Spieß mit dem Döner für sie dreht.

Ob die Länge der Schlange im Einklang mit der Güte des Gebotenen steht, liegt im Auge, im Munde des Betrachters. Die Schlange hat's im Reiseführer, in der Zeitung, im Internet gelesen, wie toll oder gar kultig die Speisen hier oder dort wären.

Na ich weiß nicht, ich warte ungerne so lange auf Döner, Currywurst und Co., mal abgesehen von der Preisgestaltung.

Ich dreh' den Spieß um und esse woanders etwas ganz anderes, and now for something completely different.

Currywurst mit / ohne Darm, ewiges Streitthema unter Spezialisten. Ich wagte mal in einem Internetforum zu sagen, Currywurst muss man nicht unbedingt gegessen haben.

Oha wie viele da den Spieß umdrehten und mich einem heftigem Shitstorm aussetzten.

Mutter oder Sohn Konnopke oder Ziervogel oder Ruhrpott oder Hamburg hätten die Currywurst erfunden oder zu neuen Höhenflügen geführt.

Ich dreh' den Spieß ein weiteres Mal um. Nutzloses Wissen, das die Welt oder wenigstens ich nicht brauche: Ideologische Grabenkämpfe unter der Hochbahn.

Ich glaube, es gibt auch vegane und vegetarische Currywurst, also Fleisch ohne Fleisch. Das übersteigt meine Vorstellungskraft.

Aber in Leberkäse muss ja weder Leber noch Käse enthalten sein.

Ganz schön spießig, immer nur den Spieß umzudrehen. Ach ja, es gab mal eine Zeit, da habe ich mir am Imbiss gerne einen Fleischspieß geholt, das muss im vorigen Jahrtausend gewesen sein.


© Wolfgang Weber, April 2023.
Textetisch 11.01.2023, Thema: den Spieß umdrehen.


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2023/04/06


Tagebuch 1973, Teil 65: Kandy/Sri Lanka

von Dr. Christian G. Pätzold


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Die Teeplantagenarbeiter und ihre Häuser in Kandy.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, 10. 12. 1973.


8. Dezember 1973, Colombo - Kandy, Sonnabend

Morgens sind wir mit dem Bus die 114 Kilometer in die alte Königsstadt Kandy in der Mitte von Sri Lanka gefahren. Für die Busse gab es eine lange Schlange. Angeblich waren schon 150 Busse aus dem Verkehr genommen, da ihre Reifen kaputt waren und es keine Ersatzreifen gab. Kandy liegt malerisch umgeben von bewaldeten Hügeln. In Kandy haben wir ein Doppelzimmer für 20 Rupees gefunden. Danach haben wir den schönen See von Kandy angeschaut.

Wir haben Minnette de Silva (1918-1998) besucht und hatten ein Gespräch mit ihr. Minnette de Silva war eine Freundin von Kumari Jayawardena, eine bekannte Architektin und Pionierin der tropischen Moderne in Sri Lanka. Leider hatte ich kaum Ahnung von Architekturgeschichte, so dass ich nichts Sinnvolles mit ihr besprechen konnte. Ihr Vater George E. de Silva war ein berühmter Rechtsanwalt und Politiker sowie eine Stadtgröße in Kandy mit einem eigenen Denkmal.

Anschließend haben wir den berühmten Zahntempel (Sri Dalada Maligawa) in Kandy besucht, in dem ein Zahn Buddhas aufbewahrt werden soll, genauer gesagt ein oberer linker Eckzahn Buddhas. Als Buddha 483 vuZ. eingeäschert wurde, soll der Zahn aus der Asche gerettet worden sein. Dieser Zahn wurde immer in der Residenzstadt der singhalesischen Könige aufbewahrt. Der Zahn hat eine große Anziehungskraft für die Buddhisten Sri Lankas und für Buddhisten weltweit und daher ist Kandy eine wichtige Pilgerstätte des Buddhismus. Durch die Zahlungskraft der Besucher ist die Stadt relativ wohlhabend. Jedes Jahr im August findet eine große Prozession (Esala Perahera) in Kandy statt, bei der die Reliquie auf einem Elefanten durch die Stadt getragen wird.

Den Zahn bekommt allerdings kaum jemand zu sehen, da er in einem vergoldeten Reliquienbehälter aufbewahrt wird. Buddhas Zahn ist schon eine tolle Reliquie. Wer hat schon einen Zahn von Buddha? Ich zweifelte allerdings daran, dass es wirklich ein Zahn von Buddha war. Schließlich fallen den Leuten reihenweise die Zähne aus. Es könnte also auch ein Zahn von irgendeinem Mister XY sein. Aber für die Gläubigen spielten solche Überlegungen natürlich keine Rolle.

Reliquien gibt es nicht nur im Buddhismus. Auch im Katholizismus gibt es ja viele berühmte Reliquien, wie etwa den Dreikönigenschrein mit den angeblichen Gebeinen der heiligen drei Könige im Kölner Dom, oder den Heiligen Rock, das ist angeblich die Tunika, die Jesus Christus bei der Kreuzigung getragen haben soll, und die im Trierer Dom aufbewahrt wird. Auch im Islam gibt es Reliquien. So beherbergt bspw. der Hazratbal-Schrein in Srinagar/Kaschmir eine Reliquie, bei der es sich um ein Haar aus dem Bart des Propheten Mohammed handeln soll.

Es gibt Reliquien 1. Ranges und Reliquien 2. Ranges. Reliquien 1. Ranges sind Körperteile von Heiligen, wie Knochen, Haare, Zähne, Herzen, Blut etc. Reliquien 2. Ranges sind Berührungsreliquien, die von Heiligen berührt wurden, wie bspw. Kleidungsstücke.


9. Dezember 1973, Kandy, Sonntag

Heute war Vollmond, für die Buddhisten ein besonderer Tag. Wir haben eine kleine buddhistische Prozession gesehen. Dann haben wir den wundervollen tropischen Botanischen Garten von Kandy besucht, mit riesigen Bäumen und zahlreichen Orchideenarten und Züchtungen. Eine Orchideensorte hieß "Madame Kiesinger", benannt anlässlich des Besuchs des deutschen Kanzlers Kiesinger.

Der Botanische Garten von Kandy liegt an einem Fluss, in dem gerade eine Gruppe zahmer Elefanten badete. Elefanten lieben das Baden, so dass ich davon ausging, dass sie gute Laune hatten. Das war natürlich schon eine Attraktion, so nah auf Armlänge bei den Elefanten zu sein. Die Elefantenbetreuer boten uns an, dass wir mal auf einem Elefanten sitzen könnten. Und so kam es, dass ich zum ersten Mal und zum letzten Mal in meinem Leben auf einem erwachsenen Elefanten saß. Elefanten sind große Tiere. Es war erstaunlich zu erleben, wie weit abgehoben vom Erdboden man auf dem Rücken eines Elefanten ist. Den Elefantenhütern haben wir 5 Rupees für die Elefanten gegeben. So ein großer Elefant braucht ja eine riesige Menge an Futter jeden Tag. Die Zahl der zahmen und wilden Elefanten in Sri Lanka wird auf 3.000 geschätzt.

Vorgestern hatte ich nachts mit Mücken zu kämpfen. Jetzt sind aus den Mücken echte Elefanten geworden, aber friedliche.

Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich Elefanten schon seit meiner Kindheit kannte. Damals in den 1950er Jahren durften die Elefanten im Berliner Zoo noch von den Besuchern gefüttert werden. Ich hatte Äpfel dabei und die Elefanten haben die Äpfel mit der Spitze ihrer langen Rüssel gegriffen und genüsslich in ihr Maul gesteckt.

Nach dem Besuch im Botanischen Garten haben wir verschiedene tropische Früchte und Gemüse ausprobiert. Eine Ananas kostete 1,25 bis 2 Rupees, eine Mango 20 bis 50 Cents. Holzapfelsaft und Passionsfruchtsaft haben mir sehr köstlich geschmeckt. Jackfruit und Breadfruit waren hier häufig als Gemüse und Obst gegessene Früchte.


10. Dezember 1973, Kandy, Montag

In der Nähe von Kandy konnten wir in der hügeligen Landschaft die Hatane Tea Estate besichtigen, die Teesträucher, die Trocknungsanlage für die Teeblätter, sowie die Häuser der Teearbeiter. Alles machte einen aufgeräumten und gut organisierten Eindruck. Der Export von Tee in alle Welt war ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor für Sri Lanka. Auf der Teeplantage wurden die Teeblätter mit englischen und ceylonesischen Maschinen getrocknet und zerkleinert. Die Plantage hatte eine Fläche von 1 Quadratmeile. 40 Arbeiter arbeiteten in der Fabrik, und es gab 800 Pflücker:innen und Säuberer für die Felder. Alle Arbeiter:innen bekamen für 8 Stunden Arbeit 4,20 bis 4,80 Rupees (entsprach etwa 1 DM). Als wöchentliche Reisration bekamen sie noch 2 Pound, außerdem 1,5 Pound Mehl. (1 Pound Reis kostete auf dem Markt 5 Rupees). Neben den Arbeiter:innen lebten noch etwa genau so viele andere Menschen auf der Estate, teilweise arbeitsfähige Jugendliche, die aber arbeitslos waren. Auf der Estate gab es keinen Einkaufsladen, auch keine Möglichkeit des privaten Gemüseanbaus etc, da überall Tee gepflanzt war. Die Arbeiter:innen waren alle Tamilen und völlig landlos. Die Fabrik und die Estate waren im britischen Eigentum, neuerdings mit singhalesischen Anteilen. In den Reihenhäusern lebte eine Familie in einem Raum. Ein Mann sagte uns, dass viele unterernährt seien und oft nur 1 Tasse Tee (schwarz) am Tag hätten. Im Gästebuch für die ausländischen Besucher standen keine kritischen Bemerkungen über die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen.

Wir sind im überfüllten Zug nach Colombo zurückgefahren.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2023.


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Teeplantagenlandschaft bei Kandy/Sri Lanka.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, 10. 12. 1973.


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2023/04/02


Tagebuch 1973, Teil 64: Colombo II

von Dr. Christian G. Pätzold


5. Dezember 1973, Colombo, Mittwoch

Vormittags waren wir im Parlament von Sri Lanka, wo ein Deputy Minister die Bildungspolitik der Regierung verteidigt hat. Im Parlament war nicht viel los, nur 5 Abgeordnete waren anwesend. Außerdem sprach der Minister in Sinhala, so dass wir nichts verstanden haben.


6. Dezember 1973, Colombo, Donnerstag

In Colombo gab es Rationierungen von Lebensmitteln. Die Menschenschlangen vor den Geschäften waren sehr lang. Um 3 Uhr morgens mussten sich die Leute nach Reis und Brot anstellen, um noch etwas zu bekommen. Gestern soll jemand in der Schlange tot umgefallen sein. Anscheinend gab es eine ernste Knappheit von Nahrungsmitteln.

Nachmittags haben wir Frau Kumari Jayawardena zu einem Gespräch besucht, deren Kontaktadresse wir hatten. Sie hatte an der London School of Economics und in Paris an der Sciences Po studiert, promovierte 1964 an der LSE. Jetzt unterrichtete sie Politik an der Colombo University. Ihr Mann war im Planungsministerium tätig. Ihr Haus war sehr groß, sie hatten mehrere Hausangestellte. Anscheinend war es in Sri Lanka für wohlhabende Haushalte mit regelmäßigem Einkommen üblich, dass sie Hausangestellte hatten, bspw. für die Küche, fürs Auto oder für das Schlangestehen. Das Haus war auch sehr imponierend eingerichtet mit Holzmöbeln. Frau Jayawardena war sehr freundlich und hat uns angeboten, bei ihr zu wohnen. Das haben wir gern angenommen. (Frau Kumari Jayawardena, geboren 1931, wurde später eine führende international bekannte Feministin und schrieb des Buch »Feminism and Nationalism in the Third World«, 1986).


7. Dezember 1973, Colombo, Freitag

Im Haus von Frau Jayawardena haben wir ihre Mutter getroffen, die Engländerin war. Sie hat sich darüber beschwert, dass die Regierung die Teeplantagen verstaatlichen wollte. Darin sah sie ihren sicheren Ruin und den Verlust des englischen Marktes. Sie gab aber zu, dass die Regierung nur die schlechteren Teeplantagen verstaatlichen wollte. Die Mutter hatte etwas dagegen, dass Slumkinder ins Haus kamen und mit den Enkelkindern spielten. Es gab anscheinend in Colombo einen ausgeprägten Gegensatz zwischen Upper Class und Lower Class. Dazu fällt einem vielleicht ein deutscher Song von damals ein: "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, Sing nicht ihre Lieder" (1965) von Franz Josef Degenhardt.

Ich habe meine Wäsche gewaschen. Nachts konnte ich wegen der nervenden Mücken kaum schlafen. Ich war ja in den Tropen. Hier gab es auch im Dezember Stechmücken. Während meiner gesamten Reise durch die Tropen habe ich nie ein Moskitonetz verwendet. Zum Glück habe ich mir keine Malaria eingefangen. Vielleicht auch, weil ich Tabletten zur Malariaprophylaxe genommen habe.

© Dr. Christian G. Pätzold, April 2023.


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2023/03/31


vorschau04


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2023/03/30


Egon Erwin Kisch zum 75. Todestag
Prag 29. April 1885 - Prag 31. März 1948


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Egon Erwin Kisch in Melbourne, 1934.
Quelle: Wikimedia Commons.


Dieser Ort von Charlottenburg um die Gedächtniskirche war um 1900 von der Bohème geprägt. Hier wohnte und lebte der künstlerische Berliner Größenwahn. Im Café Größenwahn waren Kabarettisten, Schauspieler, Maler, Dichter und Literaten zu Gast, auch Dichterinnen und Literatinnen, die glaubten, ganz Außerordentliches zu leisten. Dort traf man auch den jungen Erich Mühsam, der später in seinen »Unpolitischen Erinnerungen« darüber schrieb:

»Ich erinnere mich eines Abends im alten »Café des Westens« am Künstlertisch, der vollbesetzt war. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Musiker mit und ohne Namen saßen beisammen; da warf Ernst von Wolzogen die Frage auf, wer von uns konfliktlos und in Eintracht mit seinen Angehörigen zu seiner Lebensführung als Künstler gekommen sei. Es stellte sich heraus, daß wir allesamt, ohne eine einzige Ausnahme, Apostaten unserer Herkunft, mißratene Söhne waren.«

»Von irgendwoher mal wieder für ein paar Monate nach Berlin zurückgekehrt, fand ich das »Café des Westens« baulich verändert, modernisiert und seiner früheren Gemütlichkeit einigermaßen beraubt vor. Der alte Künstlerstammtisch beim Eingang war in eine andere Nische gestellt, und seine ständigen Besucher erschienen nur noch sporadisch oder hatten sich verkrümelt. Dafür waren die marmornen Tischplatten, auf denen Ottomar Begas Wirt und Gäste in Pastell festgehalten hatte, unter Glas gesetzt worden, und ein Ölbild von Edmund Edel, auf dem Rossius-Rhyn, Hans Heinz Ewers, ich und ein junges Mädchen meiner Freundschaft an vergangenen Glanz erinnern sollten, prangte an der Wand. Über der Telephonzelle aber verschönte die Gipsbüste Wilhelms II. das verjüngte Lokal und gab zu vielen, dazumal nicht ganz ungefährlichen Witzen Anlaß. Auch die Gesellschaft hatte sich gewandelt. Man saß nicht mehr im Kreise arrivierter Kulturträger, sondern zwischen zigeunernden Skeptikern und schönheitsdurstigen Lebensstilisten, selbst nicht mehr einer der Allerjüngsten und, in der zweiten Hälfte der Zwanziger, von manchen schon als überholt belächelt. Große Mode war der Ästhetizismus, die Müdigkeit, der Absinth, das Morphium, die Blasiertheit und in Liebesdingen jedwede Anomalie.«

Auch Egon Erwin Kisch war schon vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin. In seinem Artikel »Die Gerächte Bohème« von 1922 blickt er auf die aus dem Café Größenwahn vertriebenen Literaten zurück:

»Deshalb entschloß sich Herr Pauly, die Künstler hinauszuschmeißen, die alten bemalten Marmorplatten zu verkaufen, die in allen Ehren verräucherten Wände mit geblümten Tapeten zu beziehen und überhaupt recht fein zu sein mit sehr viel Goldüberzug und Samt und Kitsch und mit einer Musikkapelle im Frack und mit hohen Preisen. Das war gar nicht schön von ihm, denn an der armen Bohème hatte er ja all sein Geld verdient und konnte auch weiterhin viel Geld verdienen. Doch nicht genug damit, daß er sie heimatlos machte, er lachte sie obendrein auf ganz geschmacklose Weise aus. Als er sein neues, geschniegeltes und gebügeltes Lokal eröffnete, ließ er überall ein Doppelplakat anschlagen: Auf der einen Seite war eine Gruppe hagerer langhaariger Künstler karikiert, und darunter stand: »Diese da sind traurig«. Auf der anderen Seite waren Lebemänner mit Monokel und Weltdamen mit hohen Absätzen in idealisierter Pose dargestellt, und darunter stand: »Diese frohlocken«.«

Das Ende der Geschichte war, dass nicht nur die Bohemiens und Bohemiennes vertrieben waren, sondern auch die Schickeria ausblieb. Die Rechnung des Gastwirts war nicht aufgegangen.

Dr. Christian G. Pätzold.


Jürgen Tomm vom Berliner Buchhändlerkeller schreibt über Kisch:

»"Der rasende Reporter", "Hetzjagd durch die Zeit", "Marktplatz der Sensationen" - mit Titeln wie diesen für seine Reportagenbände erwies sich Egon Erwin Kisch als glänzender Selbstvermarkter.
Dabei sind alle diese Texte langsam und sorgfältig gearbeitet und begründeten eine in Deutschland neue Form: die literarische Reportage. Ausdrücklich zeichnet der 1977 geschaffene Egon-Erwin-Kisch-Preis (ab 2005 Henri-Nannen-Preis) die besten Reportagen als literarische Kunstform aus.
Natürlich war der 1885 im gehobenen deutsch-jüdischen Bürgertum von Prag geborene Kisch von Jugend an umtriebig bis zum Exzess und hatte früh einen Sensationserfolg, als er die Vertuschung der Spionageaffäre um Oberst Redl im 1. Weltkrieg durch das österreichische Militär verhinderte.
Im November 1918 wurde er als Kommandeur der "Roten Garden" in Wien zum Revoluzzer - und blieb, auch als er durch die Ausweisung aus Deutschland 1933 längst zum unfreiwillig-freiwilligen Weltbürger geworden war, der Utopie des Kommunismus treu - vom Spanischen Bürgerkrieg über alle Erdteile hinweg und die Zeit des Exils in Mexiko bis zu seinen letzten Jahren wieder in Prag, wo er im März 1948 starb - vor 75 Jahren.«


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2023/03/27


Der Bohemien Erich Mühsam
Berlin 6. April 1878 - KZ Oranienburg 10. Juli 1934


muehsam
Licht-Luft-Baden in der Natur.
Erich Mühsam (rechts) und Raphael Friedeberg am Wasserfall
bei der alten Mühle, Monte Verità, 1904.
Quelle: Wikimedia Commons.


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2023/03/23


dr. christian g. pätzold
zur psychologie der bohème


hi liebe bohemiens und bohemiennes
meine vorfahren stammen aus böhmen
also muss ich ein textender bohemien sein
ja böhmen ist ein schönes land
wo die marillen so gut wachsen
und knödel und schweinebraten in den wirtshäusern dampfen
wo jan nepomuk neruda dichtete
und der brave soldat schwejk in den weltkrieg geriet
das ist mir zum glück bisher nicht passiert

der bohemien interessiert sich für die wahrheit
für die schönheit und die gleichheit
für geld interessiert er sich nicht so sehr
der bohemien ist meist ein einzelgänger
ein luftmensch und ein unikat
ein besonderer menschentyp
der sich gern in rauchercafés aufhält
am liebsten im quartier latin in paris
oder am montmartre
am klavier klimperte erik satie

und man traf sich auch gern auf dem monte verità oder in schwabing
oder im café größenwahn in berlin
wo erich mühsam und freunde philosophierten

der bohemien ist kein dandy, kein decadent, kein gauner
kein gigolo und auch kein mafioso

er ist ein mehrdimensionaler mensch
ein künstler ein lebenskünstler
meist ein intellektueller der bücher schreibt
ein dichter oder eine dichterin
ein armer poet von carl spitzweg
der in seiner dachstube im bett liegt
mit seiner schreibfeder in der hand

der bohemien ist immer in der minderheit
er ist ein outsider in der mehrheitsgesellschaft
ein autonomer ein antiautoritärer
auch hippies und punks sind bohemiens
die ein freies und wildes leben führen wollen
frei von gesellschaftlichen zwängen.

© dr. christian g. pätzold. märz 2023.
(Nicht von Chat GPT oder KI geschrieben)


muehsam2
Mühsam-Karikatur von Hanns Bolz, 1911.


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2023/03/20


Heute ist endlich Frühjahrsanfang !
(Tag und Nacht Gleichheit)


fruehjahrsanfang
Kirschblüte. Foto von Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/03/17


"Berlin ist die Resterampe der Republik" (Markus Söder, CSU)

Grüße aus der Mülltonne der Nation nach Oberammergau !


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2023/03/14


Das Heimchen


heimchen
Eine Mahlzeit Hausgrillen in Thailand.
Quelle: Wikimedia Commons.


Sollen wir demnächst unsere Hausgrillen zu Hause grillen? Die Europäische Union hat nach Mehlwürmern und Heuschrecken jetzt auch die Hausgrillen und die Larven des Getreideschimmelkäfers als Nahrungsmittel in der Lebensmittelindustrie zugelassen. Die Hausgrille (Acheta domesticus), auch Heimchen genannt, auf Englisch House cricket, ist eine Langfühlerschrecke aus der Familie der Echten Grillen, erfahren wir bei Wikipedia. In China und Japan werden die Hausgrillen auch als Haustiere gehalten wegen ihres Gesangs. Die Hausgrillen mögen die Nähe des Menschen, weil es dort warm ist und sie Nahrung finden.

Nahrungsmittelproduktion superregional, in deiner eigenen Wohnung. Keine Transportwege. Verwertung deiner Abfälle. Kein CO2-Fußabdruck. Keine inflationären Lebensmittelpreise im Supermarkt mehr. Eine hervorragende Protein-Quelle. So lauten die Lobpreisungen. Werden bei der Berliner Tafel demnächst nur noch Tüten mit Spinnen und Kakerlaken verteilt? In Thailand habe ich zwar schon mal geröstete Ameisen gegessen, aber danach nie wieder. Ich denke, dass ich lieber keine Heimchen essen möchte. Ich habe keine Lust darauf, alle Zutatenlisten im Supermarkt durchlesen zu müssen, um zu erfahren, ob Insektenmehl enthalten ist.

Sollen wir als nächstes die Guppys und Skalare aus unserem Aquarium essen? Und danach unsere Schildkröten Hanni und Nanni in einer Schildkrötensuppe schmoren? Kommt dann der Goldhamster dran? Wo soll das enden? Sollen wir etwa noch unsere geliebten Hauskatzen und unseren Haushund Wuffke im Ofen braten?

Mit Müh und Not haben wir das US-amerikanische Chlorhühnchen verhindert. Verlangt die EU demnächst von uns, dass wir die niedlichen Spatzen im Vorgarten schießen und im Ofenrohr braten sollen? Eigentlich dachte ich, die Brüsseler Bürokraten wären mit der Berechnung der rechtmäßigen Krümmung der Salatgurke ausreichend beschäftigt. Aber anscheinend nehmen jetzt die Hausgrillen und Schimmelkäfer in den Brüsseler Amtsstuben überhand.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/03/12


Kaputter russischer Panzer vor der russischen Botschaft in Berlin,
Unter den Linden


panzer
Der Ukraine-Krieg zieht sich in die Länge mit vielen Toten.
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, 26. Februar 2023.


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2023/03/11


Erleuchtung im Hotel in Hurghada/Ägypten


hurghada
Foto von Anonyma, Januar 2023.


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2023/03/08


Cozido à portuguesa


cozido


Cozido à portuguesa - ein berühmtes portugiesisches Eintopfgericht.
Fotografiert im Restaurant Tony's - Cozido das Caldeiras, in Furnas/Povoação/São Miguel/
Azoren/Portugal.
Der Cozido wird dort in einem großen Topf studenlang in einem Erdloch gegart, das durch die heiße Vulkanerde heizt.
"Schmeckte ein bisschen nach Erde, naja, war ja auch im Erdloch gegart."
Foto von © Dagmar Sinn, August 2017.


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2023/03/05


Wolfgang Weber
Floß


auf dem Wasser, Gracht, Floß, Ponton, Flussschifffahrt, Ausflugsschiff, Kreis & Stern & Kreis, Barkasse, Fähre, Katamaran, Segelschiff / -boot, Dampfer, Kahn, Jolle, Gig, Paddelboot, Ruderboot, ferngesteuertes Modell, Schiffshebewerk, Fischtreppe, rosarotes Gummiboot, Schlauchboot, swimming pool, nix da, bloß nicht verzetteln

wir gleiten auf dem Wasser
wir gleiten
Wasserski
wir gleiten wir gleiten dahin
Katamaran

wir gleiten
Floß
wir gleiten wir gleiten
Segelboot
wir gleiten dahin
Schiffbruch mit Tiger
irgendwo auf dem Ozean
dahin geglitten
ganz ohne Schlitten
Proviant fürs Gleiten
vierzehn Schnitten
gegessen inmitten
der Plätze auf dem Floß
immer nur Ruhe bewahren

wir sind viele
haben Fantasie
Marie Chérie
unser Floß ist groß
fast wie ein Schlooß
Platz für
Marie Chérie & Jerrie

Willie & Billie
spielen Hillbillie
Mandoline neben der Turbine
Ukulele Lulu Eke
Bamboleo Ukulele
da kommt Joe mit dem Ban-Joe

alles auf'm Wasser
'ne Band auf'm Wasser
auf'm Floß
ganz ohne Moos

unter'm Floß wird's immer nasser
es hat geregnet wie noch nie
im Spreewald
nun ist die Spreewaldwelle in Berlin
unter'm Floß
dem Musikfloß
unter'm Floß
ganz viel Wasser

unter der nächsten Brücke
müssen alle die Köpfe einziehen
vielleicht noch mehr
soviel Weitsicht muss sein
ein Floß
setzt kein Moos an
ein Floß ist kein Wolkenkratzer
soviel Umsicht muss sein

gleiten auf dem Wasser
ja wir gleiten auf dem Wasser
Joe & Märie
auf dem Weg zur Prärie

Hans & Karl
auf dem Weg nach Marl
Chérie & Jerrie
Will & Bill
spielen Hillbill

die Band wurde engagiert
zum Gleiten auf dem Wasser
auf dem Floß
ist ordentlich was los
eine Band ohne Verstärker
man hört sie exclusiv nur auf dem Floß
& im Umkreis von drei Metern

die Band ist ganz famos
sie spielt unplugged
ganz leis ganz leicht
sie swingt immens
ich glaube so was heißt Western Swing
welch ein Ding mit'm Pfiff
es ist kein Schiff
nein das ist es nicht

famose Kapelle auf'm Floß
nu' geht's bald los
ganz ohne Moos
wie famos

'ne tolle Band an Bord
sie spielen in einem Fort
oh Lord
niemand geht über Bord

down by the riverside
bis zum Ziel ist es nicht mehr weit
nicht einer speit
keiner schreit
nicht mal Edvard Munch

gleiten auf dem Wasser
auf dem Floß
gleiten dahin
aus den Augen aus dem Sinn

nicht wahr
Joe, Marie Chérie
Jerrie, Jeremy
Anna & Hannah mit der Bandana
Karl & Hans
Sabin' & Christin
dazu der Franz
Willie & Billie

seid Ihr wieder dabei, wenn es heißt
gleiten auf dem Wasser
gleiten auf dem Floß
das wird wieder ganz famos
noch besser als Davos

was brauchen wir noch
ja einen Kloß
pro Person
für's Gleichgewicht

nächstes Mal haben wir einen
Singer Songwriter dabei, mit Slide Guitar, der gleitet nur so über die Saiten
damit wir nicht ins Wasser gleiten werden
hilft uns der Kloß

sei kein Trauerkloß
wir gleiten wieder dahin
auf dem Wasser
auf dem Floß
ganz famos
ja wir sind ganz bei Troos'


© Wolfgang Weber, März 2023.
Textbar 12.09.2022, Thema: auf dem Wasser.


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2023/03/02


Anastasia Samoylova: Floridas

Ausstellung im C/O Berlin
Hardenbergstraße 22, am Bahnhof Zoo, bis 4. Mai 2023


florida
© Anastasia Samoylova: Empty Lots, Mexico Beach, 2021.
Quelle: C/O Berlin.


Das C/O Berlin schreibt über die Ausstellung:

"Dort, wo Strände und Palmen das öffentliche Image prägen, wo sich pinke Flamingos vor bunten Häuserfronten tummeln und Alligatoren in Pools verirren, kratzt Anastasia Samoylova (*1984, UdSSR) an der schillernden Fassade eines amerikanischen Traums. In ihrem fotografischen Road Trip zeigt Samoylova den Sunshine State Florida als eine flirrende Fantasie und subtropische Dystopie, die durch ihre tiefe politische Spaltung ebenso gekennzeichnet ist wie durch die Auswirkungen der Klimakrise. Parallel zur großen Retrospektive des Pioniers der Farbfotografie, William Eggleston, präsentiert C/O Berlin Anastasia Samoylova . Floridas vom 28. Januar bis zum 4. Mai 2023 und widmet dem Projekt die erste institutionelle Einzelausstellung der Künstlerin in Deutschland."

"Anastasia Samoylova (b. 1984 in USSR) scratches the flamboyant surface of an American dream in a place where the public image is characterized by beaches and palm trees, where pink flamingos romp in front of colorful buildings and alligators find their way into pools. On her photographic road trip through Florida, Samoylova shows the Sunshine State as a shimmering fantasy and subtropical dystopia that is equally marked by its deep political divide and by the impact of the climate crisis. Shown concurrently with the major retrospective of the work of color photography pioneer William Eggleston, C/O Berlin will present Anastasia Samoylova . Floridas from January 28 to May 4, 2023 - the artist's first institutional solo exhibition in Germany."


Tickets für 3 Ausstellungen: 12/6 Euro.

Im Rahmen des European Month of Photography / EMOP Berlin.


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2023/02/28


vorschau03


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2023/02/25


Fahrradwege in Berlin


fahrradweg
Foto von Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2023.


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2023/02/22


"Ich freue mich, wenn es regnet.
Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch."

Karl Valentin


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2023/02/19


Fenchelhonig


fenchelhonig
Etikett um 1910. Foto von Dagmar Sinn.


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2023/02/16


Dagmar Sinn
Engpässe


Sag mir, wo Arzneien sind,
wo sind sie geblieben?
Fiebersaft für krankes Kind
fehlt, wird nicht verschrieben.

Lieferketten sind gestört -
ganz umsonst man sich empört.
Auch die Antibiotika
sind zur Zeit nur selten da.
Und so manchem Krebspatient
hilft kein teures Med´kament.

Politik, gar keine Frage
ist schon wieder Herr der Lage:
Billigpreise aufgehoben,
ist die Lösung ganz von oben.
Produktion im Euro-Land,
China wird komplett verbannt.

Und die Ärzte, sieh mal an,
haben den patenten Plan:
frag den Nachbarn nach Arznei,
oft ist was für dich dabei.
Manchmal ist sie angebrochen,
freudig wird daran gerochen,
alles ist nun einerlei,
mit Verlaub, wir sind so frei.

Hilft auch d i e Methode nicht,
ist Wirkstoff-Trödelmarkt in Sicht!
Dort ist, wo Arznei ich find,
für den Opa, für das Kind.

Und wenn das dann Schule macht -
Gesundheitswesen, gute Nacht!


© Dagmar Sinn, Februar 2023.


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2023/02/13


krankenversichert ?


Ich würde gern wissen, warum ich in Deutschland für alle Medikamente viel Geld zahlen muss, obwohl ich krankenversichert bin? Und warum ich für ganz normale 08/15-Tabletten mehr bezahlen muss, als sie eigentlich wert sind?

Und warum gibt es wichtige Medikamente nicht mehr, weil sie nicht mehr in Deutschland oder in Europa hergestellt werden, sondern in China oder Indien? Warum sorgt der deutsche Staat nicht für die Daseinsvorsorge für die Bevölkerung und stellt die Medikamente selber her? Weil er kapitalistisch verblendet ist und denkt, dass der Markt alles automatisch regelt? Es gibt nicht mal genug Hustensaft für Kinder im Winter 2022/2023. Ein Staat der Personalausweise herstellen kann, wird ja wohl auch Hustensaft herstellen können. Sogar die FDP in der Bundesregierung hat große Unternehmen verstaatlicht, bspw. Uniper mit 11.000 Mitarbeitern.

Deutschland ist angeblich die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und kann nicht mal Hustensaft für Kinder herstellen? Aber die Panzerproduktion läuft prächtig, dafür gibt es ja den Wums von 100 Milliarden Euro. Muss man die Regierung loben, dass sie so schöne Wörter wie Wums erfindet?

Und warum gibt es nicht genügend Krankenwagen und Rettungswagen in Berlin, während die Vorstände der Krankenkassen irre Gehälter von Hunderttausenden Euro im Jahr kassieren? Selbstbedienungsmentalität? Viele Krankenhäuser stehen heute kurz vor der Pleite oder behandeln Kranke nur noch nach ökonomischen Gesichtspunkten.

Und warum müssen die Reichen gar nichts zur gesetzlichen Krankenversicherung einzahlen, während die Armen kaputtgespart werden?

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/02/10


Bertolt Brecht zum 125. Geburtstag
Augsburg 10. Februar 1898 - Ost-Berlin 14. August 1956


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»Wenn die Haifische Menschen wären«, fragte Herrn K. die kleine Tochter seiner Wirtin, »wären sie dann netter zu den kleinen Fischen?« »Sicher«, sagte er. »Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie im Meer für die kleinen Fische gewaltige Kästen bauen lassen, mit allerhand Nahrung drin, sowohl Pflanzen als auch Tierzeug. Sie würden sorgen, dass die Kästen immer frisches Wasser hätten, und sie würden überhaupt allerhand sanitäre Maßnahmen treffen. Wenn zum Beispiel ein Fischlein sich die Flosse verletzen würde, dann würde ihm sogleich ein Verband gemacht, damit es den Haifischen nicht wegstürbe vor der Zeit. Damit die Fischlein nicht trübsinnig würden, gäbe es ab und zu große Wasserfeste; denn lustige Fischlein schmecken besser als trübsinnige. Es gäbe natürlich auch Schulen in den großen Kästen. In diesen Schulen würden die Fischlein lernen, wie man in den Rachen der Haifische schwimmt. Sie würden zum Beispiel Geographie brauchen, damit sie die großen Haifische, die faul irgendwo liegen, finden könnten. Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert, und dass sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. Man würde den Fischlein beibringen, dass diese Zukunft nur gesichert ist, wenn sie Gehorsam lernten. Vor allen niedrigen, materialistischen, egoistischen und marxistischen Neigungen müssten sich die Fischlein hüten und es sofort den Haifischen melden, wenn eines von ihnen solche Neigungen verriete. Wenn die Haifische Menschen wären, würden sie natürlich auch untereinander Kriege führen, um fremde Fischkästen und fremde Fischlein zu erobern. Die Kriege würden sie von ihren eigenen Fischlein führen lassen. Sie würden die Fischlein lehren, dass zwischen ihnen und den Fischlein der anderen Haifische ein riesiger Unterschied bestehe. Die Fischlein, würden sie verkünden, sind bekanntlich stumm, aber sie schweigen in ganz verschiedenen Sprachen und können einander daher unmöglich verstehen. Jedem Fischlein, das im Krieg ein paar andere Fischlein, feindliche, in einer anderen Sprache schweigende Fischlein, tötete, würden sie einen kleinen Orden aus Seetang anheften und den Titel Held verleihen. Wenn die Haifische Menschen wären, gäbe es bei ihnen natürlich auch eine Kunst. Es gäbe schöne Bilder, auf denen die Zähne der Haifische in prächtigen Farben, ihre Rachen als reine Lustgärten, in denen es sich prächtig tummeln lässt, dargestellt wären. Die Theater auf dem Meeresgrund würden zeigen, wie heldenmütige Fischlein begeistert in die Haifischrachen schwimmen, und die Musik wäre so schön, dass die Fischlein unter ihren Klängen, die Kapelle voran, träumerisch, und in allerangenehmste Gedanken eingelullt, in die Haifischrachen strömten. Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde lehren, dass die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen. Übrigens würde es auch aufhören, wenn die Haifische Menschen wären, dass alle Fischlein, wie es jetzt ist, gleich sind. Einige von ihnen würden Ämter bekommen und über die anderen gesetzt werden. Die ein wenig größeren dürften sogar die kleineren auffressen. Das wäre für die Haifische nur angenehm, da sie dann selber öfter größere Brocken zu fressen bekämen. Und die größeren, Posten habenden Fischlein würden für die Ordnung unter den Fischlein sorgen, Lehrer, Offiziere, Ingenieure im Kastenbau usw. werden. Kurz, es gäbe überhaupt erst eine Kultur im Meer, wenn die Haifische Menschen wären.«

Aus: Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner.


Feierstunde

Am 10. Februar 2023 ist der 125. Geburtstag von Bertolt Brecht

Anlässlich des Jubiläums würdigt das Literaturforum im Brecht-Haus Bertolt Brecht mit einer Feierstunde auf dem Hof des Brecht-Hauses in Berlin Mitte, Chausseestraße 125.
In Kooperation mit dem Brecht-Weigel-Museum und dem Bertolt-Brecht-Archiv (beides Einrichtungen der Akademie der Künste).

Programm

12:30 Uhr
Blumen, Musik und Gedichte, am Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof

13:00 Uhr
Feierstunde auf dem Hof des Brecht-Hauses, mit warmen Speisen und Getränken
Eröffnung Erdmut Wizisla (Archiv), Stefanie Thomas (Museum) und Christian Hippe (Literaturforum)
Grußwort Klaus Lederer, Senator für Kultur und Europa in Berlin
Literarische Gratulation Annett Gröschner
Musikalische Rahmung Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot

ab 13:00 Uhr
bietet das Brecht-Weigel-Museum Extra-Führungen im Museum und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an

ab 14:00 Uhr
öffnet das Brecht-Archiv seine Türen und zeigt Dokumente zur »Kriegsfibel«.


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2023/02/06


Wolfgang Weber
WW - Wolfgangs Wurzeln


Bäume haben Wurzeln, sie sind tief im Boden verwurzelt, die Wurzeln halten sie am Leben, sie geben den Bäumen Halt und Energie.

Auch Menschen sind oft verwurzelt, dort wo sie herkommen, dort wo sie leben. Wo hat jemand seine Wurzeln, auf den dies zutrifft:

Geboren im Burgenlandkreis, der viel größer ist als die Kreise zu DDR-Zeiten, die so klein waren, um die Bürger der Republik unter Kontrolle zu halten. Der Kreis gehört wieder zu Sachsen-Anhalt.

Als Kleinkind mit den Eltern in den Westen, zunächst in das stark unterkühlte Kiel, Landeshauptstadt, dann in den Kreis Herzogtum Lauenburg, gelegen zwischen den beiden Hansestädten Hamburg und Lübeck (wie auch der benachbarte Kreis Stormarn), jedoch näher an der damaligen Zonengrenze.

Zurückhaltung, Understatement ist in Norddeutschland die Parole. Nach einer Weile hatten wir einige verlässliche Freunde und Bekannte gewonnen.

Ebenfalls in Norddeutschland, wieder etwas anders, liegt Braunschweig. Dieser Stadt und dem benachbarten Hannover wird nachgesagt, dass dort ein besonders reines Hochdeutsch gesprochen werde. Ein schönes Beispiel dafür: "Aaan Aaas zaaa draaaßig = Ein Eis zu dreißig". Ja, so waren die Preise damals für eine Kugel Eis.

Ich hatte zunächst ein Studentenzimmer bei einer Witwe. Der Ort lag genau zwischen dem großen und dem kleinen Haus des Theaters. Mein Onkel, Lehrer für Deutsch und Geschichte, fand diese Beschreibung amüsant. Eines Tages äußerte ich, dass Zigarrenrauch nicht mein Ding sei. Da sagte die Vermieterin, nein, das ginge ihr anders. Ihr Mann war leidenschaftlicher Zigarrenraucher und sie mochte weder Zigarren- noch Pfeifenrauch.

Sie starb eines Sommers und ich musste mir ein neues Zimmer suchen. Auch der Name der neuen Vermieterin begann mit Z. Das Zimmer im Dachgeschoss war im Sommer heiß, im Winter kalt.

Schließlich Berlin, kurz Steglitz, sehr lange Wedding. Ich wohne schon so lange in Berlin, ich muss ein Berliner sein.

Ja, wo hat so ein Mensch seine Wurzeln, sagt es mir.

"Home is where I hang my hat". Ich bin dort zuhause, wo ich meinen Hut hinhänge, vielleicht auf einen Baum mit hoher Krone, vielleicht an die Garderobe.


© Wolfgang Weber, Februar 2023.
Textbar 08. 10. 2022, Thema Wurzeln


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2023/02/02


Black History Month in Berlin

von Dr. Christian G. Pätzold


bhm1
Aufruf zur Schutztruppe in Südwestafrika.
Quelle: Wikimedia Commons.


Der Black History Month (BHM) oder der Monat der Geschichte und Kultur der Afrikaner:innen entstand zuerst in den USA in den 1920er Jahren und findet traditionell im Februar statt. Damals wurde die Geschichte der Afro-Amerikaner von der Mehrheitsgesellschaft in den USA verdrängt und ignoriert. Von der Geschichte des Sklavenhandels und der Sklavenarbeit der Afrikaner:innen auf den Plantagen der Süd-Staaten wollte man nichts mehr hören. Um dieser Verdrängung entgegen zu wirken, entstand der Black History Month, der inzwischen auch in anderen Teilen der Welt stattfindet, auch in Berlin.

Aber was hat afrikanische Geschichte mit Berlin zu tun? Tatsächlich gibt es auch in Berlin viel afro-deutsche Geschichte, die aber nicht allen Berliner:innen so bewusst ist. Ein Beispiel ist die Mohrenstraße in Berlin Mitte in der Nähe des Brandenburger Tors. Dort wohnten im 18. Jahrhundert die "Mohren", so wurden die Afrikaner damals genannt. Im Feudalismus war es Mode, einen Mohren als Hausdiener zu haben, denn die waren exotisch und selten. Wenn man einen Mohren hatte, war das ein Luxus und ein Statussymbol. Es war die Zeit der Kuriositätenkabinette. Heute ist die Mohrenstraße einigen Leuten peinlich und die Straße sollte eigentlich schon längst umbenannt werden. Der U-Bahnhof dort sollte in Glinkastraße umbenannt werden, aber es ist nichts passiert. (Seht bitte auch den Artikel "Kein Mohr namens Glinka" vom 2020/10/14 auf kuhlewampe.net).

Anfang Dezember 2022 sind die Lüderitzstraße und der Nachtigalplatz im Afrikanischen Viertel vom Wedding, die an deutsche Kolonisatoren erinnerten, umbenannt worden. Die Lüderitzstraße wurde in Cornelius-Fredericks-Straße umbenannt: Cornelius Fredericks war ein Anführer des militärischen Widerstands gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia. Der Nachtigalplatz wurde in Manga-Bell-Platz umbenannt: Rudolf Duala Manga Bell wurde 1914 als Anführer des Widerstands gegen die deutsche Kolonialmacht in Kamerun hingerichtet. Und diese Umbenennungen sollen erst der Anfang sein. Auch in Berlin Dahlem gibt es noch Straßennamen mit Bezug zur deutschen Kolonialherrschaft.

Ein anderes Kapitel sind die berühmten Benin-Bronzen. (Seht dazu bitte den 2021/07/15 auf kuhlewampe.net) Sie betreffen die kulturelle Ausbeutung Afrikas. Mehrere Tausende wertvolle Bronzen wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts von englischen Kolonialtruppen aus dem Königspalast in Benin geraubt und anschließend auf dem Kunstmarkt meistbietend verkauft. So kamen auch einige hundert Benin-Bronzen in den Besitz deutscher Museen. In jüngster Zeit hat man sich geschämt und ein paar Bronzen an Nigeria zurückgegeben. Aber der Großteil der Berliner Benin-Bronzen befindet sich immer noch im Besitz des Berliner Ethnologischen Museums und wird im Kaiserschloss in Berlin Mitte präsentiert, offensichtlich eine Verhöhnung aller Afrikaner:innen. Erst beraubte man die Afrikaner:innen ihrer kulturellen Identität und heute schmückt man sich mit den geraubten afrikanischen Kunstschätzen in demselben potemkinschen Kaiserschloss, von dem die Verbrechen der Kolonialzeit ausgingen. Wir haben jetzt das Jahr 2023 und die Politiker:innen sprechen immer noch von "preußischem Kulturbesitz", als ob das alles dem König von Preußen und nicht den Afrikaner:innen gehören würde.

Die Berliner Verbindungen mit Afrika reichen schon weit zurück, denn auch die brandenburgisch-preußischen Herrscher betrieben einen lukrativen Sklavenhandel mit Afrikaner:innen nach Amerika. Die brandenburgischen Kurfürsten beteiligten sich seit den 1680er Jahren am transatlantischen Sklavenhandel und verschifften etwa 30.000 Sklaven nach Amerika. 1683 wurde die brandenburgische Kolonie Groß-Friedrichsburg an der westafrikanischen Goldküste gegründet. Die Erlebnisse eines Augenzeugen, Johann Peter Oettinger, der einen Sklaventransport von Westafrika nach Amerika begleitete, sind überliefert:

"Die angekauften Sklaven mussten zu 20 und 30 niederknien. Die rechte Schulter derselben wurde mit Palmöl bestrichen und mittels eines Stempels, der die Initialen CABC (Churfürstlich Afrikanisch-Brandenburgische Compagnie) trug, gebrannt... Waren etwa 50 oder 100 Sklaven beisammen, so wurden sie zu zweien und dreien zusammengekoppelt und unter Eskorte an die Küsten getrieben... Am 4. April war endlich das Schiff mit 738 Sklaven beiderlei Geschlechts beladen... Doch welch ein Schauer überkam mich beim Betreten der Räume, in denen die unglücklichen Opfer untergebracht, beim Einatmen der schrecklichen Atmosphäre, in der dieselben zu leben gezwungen waren. Paarweise an den Füßen zusammengeschlossen, lagen oder saßen sie reihenweise nebeneinander..."

Die Hauptzeit des deutschen Kolonialismus in Afrika lag im Kaiserreich zwischen 1871 und 1918. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts verübten die deutschen Truppen den bekannten Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest-Afrika. Es sollen 70.000 Menschen getötet worden sein. Es gab auch den Maji-Maji-Krieg in Deutsch-Ostafrika. Nachdem das deutsche Kaiserreich 1918 den Ersten Weltkrieg verloren hatte, war der deutsche Kolonialspuk in Afrika und Asien glücklicherweise vorbei. Sämtliche Kolonien wurden Deutschland weggenommen. Andere europäische Staaten blieben weiter Kolonialmächte in Afrika.

Aber der Kolonialismus war nicht plötzlich in den 1960er Jahren beendet, als viele afrikanische Länder ihre politische Unabhängigkeit erkämpft hatten. Auch heute ist es eine moderne Form des Kolonialismus, wenn europäische Staaten bspw. ihren Müll nach Afrika exportieren. Und die deutsche Regierung hat heute sogar Truppen in Afrika, in Mali stationiert, die mit den dortigen Militärputschisten kooperieren. Afrika ist auch besonders schwer betroffen vom Klimawandel, und den hat bekanntlich nicht Afrika verursacht.

Heute leben Menschen aus allen afrikanischen Ländern in Berlin, weswegen sich Berlin schon den Titel "Weltstadt Berlin" zugelegt hat. (Früherer Name: Welthauptstadt Germania) Die Afrikaner haben hier allerdings oft nur einen prekären Aufenthaltsstatus, der "Duldung" genannt wird. Die Berliner Verwaltung duldet oder erduldet die Afrikaner, wohl oder übel, weil sie sie nicht los wird.

Über weitere Verbindungen zwischen Afrika und Berlin sowie über die Geschichte der Afrikaner:innen informiert gelegentlich in Ausstellungen und Veranstaltungen das Farafina Afrika Haus Berlin in der Bochumer Straße 25 in Berlin Moabit. Vereinsvorsitzender vom Farafina Afrika Haus ist Herr Oumar Diallo.


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2023/01/31


vorschau02


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2023/01/28


Vor 75 Jahren:
Mahatma Gandhi wurde erschossen


ghandi
Mahatma Gandhi mit Noakhali Hut beim Spinnen im Birla House,
New Delhi, November 1947.
Quelle: Wikimedia Commons.


Mahatma Gandhi kam 1869 in Porbandar im indischen Staat Gujarat zu Welt. Am 30. Januar 1948 wurde er in New Delhi von einem fanatischen Hindu-Nationalisten mit drei Schüssen in die Brust erschossen, der der Meinung war, dass Gandhi den Muslims zu sehr entgegen gekommen war. Gandhi war ein indischer Rechtsanwalt und Freiheitskämpfer für die Unabhängigkeit Indiens vom British Empire. Gandhi und seine Mitstreiter waren erfolgreich, Indien wurde im August 1947 ein unabhängiger Staat. Erster Ministerpräsident Indiens wurde sein Mitkämpfer Jawaharlal Nehru.

Gandhi war das religiöse Denken fremd. Für ihn sollten alle Menschen gleichberechtigt sein, egal welcher Religion oder Nicht-Religion. Gandhi war weder ein fanatischer Hindu noch ein fanatischer Nationalist. Hinduismus, Christentum, Islam, Buddhismus, Judentum waren ihm ziemlich egal. Er interessierte sich vorrangig für Politik, seine politischen Ziele bestanden in der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung aller Menschen. In seiner Vorstellung sollte Indien eine säkulare Republik sein.

Grundsätze von Gandhis politischem Kampf gegen die englische Kolonialherrschaft waren Ziviler Ungehorsam (Civil Disobedience) und Gewaltlosigkeit (Non-Violence) und Nichtzusammenarbeit (Non-Cooperation). Diese Grundsätze hatte er vor allem von Henry David Thoreau übernommen. Er organisierte Massenboykotte, Protestmärsche und Steuerverweigerungen. Seine Satyagraha-Kampagnen bestanden im gezielten Übertreten ungerechter Gesetze der Engländer. Satyagraha bedeutet Festhalten an der Wahrheit. Mit seinen Kampagnen strebte er die Selbstregierung (Swaraj) an. Die Kampagnen der Nichtzusammenarbeit beinhalteten den Verzicht auf Orden und Ehrentitel, die Aufgabe der Praxen der Rechtsanwälte, den Auszug der Schüler und Studenten aus den Schulen und Colleges, den Boykott von Wahlen, Grundsteuerverweigerung, Aufkündigung des Dienstes in der britisch-indischen Armee und den Boykott britischer Waren. Dafür wurde er wiederholt von den Engländern ins Gefängnis gesteckt.

Die heutigen Urenkel von Mahatma Gandhi heißen »Aufstand der Letzten Generation« und kleben sich auf Straßen, Autobahnen und Landebahnen von Flugzeugen fest oder werfen Kartoffelbrei auf Gemälde. Durch diese Aktionen des gewaltlosen Zivilen Ungehorsams wollen sie die Politiker zwingen, etwas gegen die menschengemachte Klimakatastrophe zu tun. Die Reaktion der Ewiggestrigen ist, die Aktivisten ins Gefängnis zu sperren, damit wieder freie Fahrt für freie Bürger herrscht. Das haben wir alles schon vor 100 Jahren in Indien gesehen oder vor 60 Jahren bei Martin Luther King. Aber hoffentlich werden die wunderbaren Menschen der Letzten Generation bald genau so erfolgreich sein, wie es Mahatma Gandhi damals war.

Dr. Christian G. Pätzold.


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2023/01/25


Greta Thunberg ist 20
geboren am 3. Januar 2003 in Stockholm/Schweden


greta
Greta Thunberg beim Glastonbury Festival, Juni 2022.
Quelle: Wikimedia Commons.


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2023/01/21


Reinhild Paarmann
14 x nichts passiert oder Sie lebt noch


Da war es wieder: Das Gefühl, nicht mehr weiter zu wissen. Die Angst schnürt den Hals zu. Der trockene Mund. Die Sehnsucht, sich ins schwarze Nichts zu werfen. Die Sogwirkung des Nichts.

Wie damals, als sie 17 war und sich aufhängte. An einer Hundeleine. Von René, ihrem Freund, wurde sie abgeknüpft. Unerträglich die Situation zu Hause. Die Mutter, die sich mit Benzin übergossen hatte, weil die ältere Tochter Helene das Haus verließ. Sie wurde gerettet und lag lange Zeit im Koma, erst einmal keine Erinnerung, der Mann vergriff sich an Katharina. Nein, Katharina, sei ehrlich, dies war der Grund, warum sich deine Mutter anzündete. Du machtest eine Bäckerlehre. Und warst schwanger. Nur von wem, stellte sich die Frage. Da tauchte die Mutter aus ihrer Black Box wieder auf. Sie sollte in die Psychiatrie, so wollte es ihr Mann. Da verstummte sie und durfte bleiben. Seitdem sitzt sie am Wohnzimmertisch und dreht mit einem Apparat sich selbst ihre Zigaretten. Sie kann nicht mehr laufen.

Der Vater schimpft mit Katharina. Er ist arbeitslos.

Morbus Crohn, die Diagnose für beide Schwestern. Eine tödliche Krankheit. Auf das Leben scheißen, bis die Eingeweide herauskommen. Katharina war dick wie ihre Mutter. Das ist vorbei. So dünn, dass es schon wieder gefährlich ist. Ist es nicht egal, woran man stirbt? Die Schwester trennt sich vom Erzeuger ihrer Tochter, oder war es umgekehrt? Katharina gebar einen Sohn. Der mögliche Vater René, ein Bosnier, lebt mit ihr zusammen, raucht selbstvergessen seine Haschischwasserpfeife. Schließt den Sohn Tomasz ein. Schweben im Raum, auch für Katharina eine Versuchung.

Vergessen. "Besorg‘ doch noch ein bisschen Haschisch!", bettelt sie René an. Haschisch macht geil.

René verprügelt sie. Warum? Es ist ihm so danach. So viel Hass ist in ihm. Als Zeuge Jehovas aufgewachsen, musste er immer seine Aggressionen unterdrücken. Wenn andere Kinder Weihnachten feierten, war bei ihm Alltag, am Geburtstag bekam er keine Geschenke. Seine erste Frau hat er verprügelt, auch die beiden gemeinsamen Kinder. Kontaktsperre. Er soll für die Kinder zahlen. Das kann er aber nicht. Er ist nicht geschieden und kann deshalb Katharina nicht heiraten, müsste sich in Bosnien scheiden lassen. Das kostet Geld. Katharina, die sich gegen die Schläge wehrt, kehrt zu ihren Eltern und der Schwester zurück. Sie trennt sich wieder von ihm. Er holt sie zurück. Ja, das kann er gut. Immer wieder.

Katharina steht auf dem Fensterbrett ihrer Küche im 8. Stock in der Dieselstraße. Sie schreit: "Ich springe!"

Katharina ist wieder schwanger. Sie hat etwas von einem One-Night-Stand erzählt, als René und sie sich einmal gestritten hatten. Aber vielleicht ist das Kind von René. Wieder die Ungewissheit. Er hat sie verprügelt.

Tomasz schaut mit großen Augen die Mutter an. Nach dem Vater ist er jedenfalls nicht gekommen. Welchen Vater? René stellt eine Ähnlichkeit mit seinem Großvater fest. Erkennt das Kind als sein eigenes an. Kein Kontakt zu seinen Eltern. Sie mischen sich immer in die Beziehung ein. Auch Katharinas Eltern. Er hat ihr verboten, mit ihnen oder der Schwester zu sprechen.

Die Nachbarin, eine Türkin, hört den Schrei von Katharina. Sie bummert gegen die Wohnungstür, weil die Klingel abgestellt ist. Niemand öffnet. Tomasz schreit wie so oft. Dann, in ihre Wohnung zurückgekehrt, sieht sie Katharina auf dem Fensterbrett der Küche stehen. Sie redet lange auf sie ein. Bis Katharina runter kommt. Die Nachbarin versteht sie. Auch ihr Mann kann sie in die Raserei treiben. Aber sie hat sechs Kinder. Nie würde sie sich umbringen.

Katharina weint, weint, weint, bis sie trocken wie ein leerer Weinschlauch ist. René hüllt sie in den Haschischrauch seiner Wasserpfeife. Todesähnlicher Schlaf.

"Das Kind sieht genauso aus wie dein Großvater", stellt die Mutter fest, als Katharina nach einer weiteren Trennung zu ihren Eltern zieht.
"Auweia, wenn das dein Mann sieht, bekommst du Ärger."

Die Geschichte mit dem Franzosen in der Disco, dessen Namen sie angeblich vergessen hat, und der sie vielleicht schwängerte, zieht nicht mehr so. Katharina, was hast du an jenem Abend gemacht? Unterdessen starb der Großvater. René hat nach der Versöhnung Fotos vom Großvater gesehen.

Er tobt. Verprügelt seine Frau. Sie trennen sich. Katharina läuft zu ihm zurück wie ein treuer Hund.

Der Onkel bringt sich um. Er hat als Kellner gearbeitet und war Homo. Vielleicht wurde er ermordet. Katharina schaudert. Würde René sie töten? Er rastet leicht aus, wenn er wütend wird, wie neulich, als er einen Fahrgast im Bus zusammenschlug. Wieder eine Vorstrafe mehr wegen Körperverletzung. Einige Verurteilungen hat er wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Und immer kein Geld. Katharina hungert, die Kinder auch, René kauft sein Haschisch. Er ist erstaunlich korpulent. Ein Gesicht wie Balzac. Stiernackig.

Katharina dagegen abgemagert mit langen, blonden, glanzlosen Locken. Aber doch eine unbändige Kraft in sich. Des Widerstandes, Schreiens und Tobens. Wenn er die Möbel zertrümmerte, schlug sie ihn. Dann wieder zusammenbrechen und weinen, weinen, weinen. Im Wohnzimmer sitzen, nicht aufhören können, die Kinder daneben mit fragenden Augen. "Warum weinst du, Mama?" Sie kann es ihnen nicht erklären. Es sind die Nebenwirkungen der Medikamente, die sie wegen ihrer Morbus-Crohn-Erkrankung nimmt. Sie wandelt in einem tiefen Tal der Depressionen.

Und dann wieder die rauschenden Feste, die René veranstaltet mit viel Alkohol und Haschisch. Tanzen, tanzen, tanzen, bis zum Umfallen, alles dreht sich, die Musik hämmert im Resonanzboden des 9-stöckigen Hauses. Fenster auf, frische Luft. Das Fitness-Rad steht unter dem Fenster im Flur. Die Kinder klettern gern darauf herum.

René bringt die Kinder in einen Kindergarten. Katharina zankt sich mit den Erzieherinnen dort. Die Windeln von Boris, dem jüngeren Sohn, sind verschwunden. Sie hat nicht so viel Geld, neue zu kaufen. Kein Geld für die Kindertagesstätten-Gebühren. Abmelden.

Tomasz bohrt große Löcher in eine Wand seines Kinderzimmers, wenn er mit seinem Bruder vom Vater eingesperrt wird. Der will seine Ruhe haben, wenn er an seiner Haschischpfeife zieht. Tomasz reißt die Plastikscheuerleiste ab, wirft die Lampe um, hängt sich an die Gardinen. Wirft sich in das niedrige Holz-Bett seines Bruders, bis es zerbricht, löst Boris die Windeln und verschmiert den Kot im Zimmer. Bis die Kinder wieder raus dürfen.

René bringt die Kinder in eine andere Kindertagesstätte, während er seine Frau einschließt. Sie soll nicht woanders so dussliges Zeug erzählen. Der Leiter will ihn sprechen, weil er so viel mit Tomasz schimpft. Nein, doch nicht mit ihm! Er will nicht.

"Wo warst du an jenem Abend, als Boris gezeugt wurde?"

"Er könnte vielleicht von dir sein. Du solltest auch für ihn das Sorgerecht bekommen, wenn mal was mit mir passiert..."
Heulen, heulen, heulen.

"Nein, niemals sollst du das Sorgerecht für ihn bekommen, du bist immer so gemein zu mir!" Kein Geld. Völlig abhängig von René. Um alles betteln müssen. Doch, er ist wieder lieb zu ihr. So bezahlt sie die Strafe, die er sonst im Gefängnis hätte absitzen müssen. Dadurch entstehen Mietschulden. René beginnt eine Ausbildung über das Arbeitsamt im Computerbereich. Ja, er ist nicht dumm. Er kauft sich von Katharinas Sozialhilfe einen Computer und macht an diesem Hausaufgaben. Bis sie sich wieder streiten. Sie hat kein Geld mehr. Trennt sich von ihm. "Du musst gehen!", schreit sie hysterisch. "Es ist meine Wohnung. Ich schmeiße dich raus! Ich ertrage dich nicht länger!" Sie rennt zu ihrer Schwester, die im gleichen Haus wohnt. Sie gehen zum Schlüsseldienst und lassen ein neues Schloss an der Wohnungstür anbringen. Den Computer verkauft Katharina. Hat Angst vor René und bleibt mit den Kindern bei der Schwester. Die hat geheiratet. Der Mann wird sie schützen. Ohne Begleitung verlässt sie nicht die Wohnung.

René steht vor der verschlossenen Tür. Schon ist Katharina wieder bei ihm. Der Vater hat doch das Recht, seine Kinder zu sehen? Falls es seine sind. René hat kein Geld für einen Vaterschaftstest. Nun werden Pläne geschmiedet. Eine Vier-Zimmer-Wohnung soll in einer anderen Straße angemietet werden. - Katharina muss raus aus ihrer Umgebung. Sie hat so viele schlechte Erfahrungen durch ihren Kiez. Dort ist sie groß geworden. Da leben ihre Eltern. Das Sozialamt spielt nicht mit. Umzug: alle fünf Jahre. So lange lebt das Paar noch nicht in der Wohnung.

Welche Versöhnung ist es? Die 14.? Katharina kann sie nicht mehr zählen. Nebel im Kopf. Sie will nicht darüber nachdenken. René schaut Pornos im Wohnzimmer, Tomasz linst rüber von der Couch her, sich schlafend stellend. Boris liegt im Kinderzimmer auf einem Sitzelement, das ihm nun als Bett dient. Mittagschlaf.
"Das ist nicht gut für Tomasz", sagt Katharina. "Dann schließ' ich ihn eben im Kinderzimmer ein", erklärt René und trägt seinen Sohn zum Bruder. Tomasz schreit. Er weckt damit Boris, der in das Geheule einfällt. Tomasz hämmert mit einem großen Legostein an eine Wand. Der Putz bröckelt. Schon ein paar Mal haben die Eltern die Löcher zugegipst.

Die Polizei klingelt unten an der Haustür. Sie ist nicht zu hören. Bekannte der Schwester haben die Polizei alarmiert. Helene traut sich nicht mehr, die Familie zu denunzieren. René hat ihr gedroht. Alle anderen sind am Drama seiner Beziehung zu Katharina schuld. Darum darf sie zu niemandem Kontakt haben.

"Meine Frau ist weg", berichtet René an der Tür von Helene. "Ganz viel Blut", flüstern die Kinder. René hat Schweiß im Gesicht, Entzugserscheinungen, seine Hände sind nass. Fleischige, die sich nach Helene recken. Sie soll ihn "scharf" gemacht haben, erzählte Katharina einmal ihren Eltern, als sie sich von ihrem Mann trennte und bei der Schwester ein paar Tage schlief. "Nur im Höschen lief sie rum." René berichtete seinen Eltern, Katharina wäre eifersüchtig geworden. "Sie sagte, sie komme nie wieder. Ich habe kein Geld mehr." Helene borgt ihm etwas. Auch René lieh ihr schon mal Geld, das er bis heute nicht zurückzahlte. Deshalb hatten sie sich gestritten. Bevor René eine Vermisstenanzeige aufgeben kann, ist seine Frau wieder da. Wie ein Bumerang. Sie kann ohne René nicht leben. Oder waren die Kinder der Grund? Ruhe.

Geschirr wird massenweise zerschlagen. Die türkische Nachbarin ist einiges gewöhnt von der Familie nebenan. Aber das sind neue Töne. Sie klingelt an der Wohnungstür. Nur Geschrei und Poltern von Geschirr. Sie ruft die Polizei. Diese klopft an die Tür, brüllt: "Hier ist die Polizei! Wenn Sie nicht sofort die Tür öffnen, schlagen wir sie ein!"
René öffnet. Katharina konnte nicht die Polizei rufen. Das Telefon ist nicht bezahlt. Und René würde ihr das auch nie erlauben. Sie hat am Sonnabend 20 Tabletten ihres Mittels gegen Morbus Crohn geschluckt, um sich umzubringen. Sie sagte es René. Dieser lachte nur. Da schloss sie sich in das kleine Zimmer ein und legte sich auf die Kindercouch. Sie schlief. Und wachte nach vielen Stunden auf. Warum war sie nicht tot? Sie taumelte zur Tür, schloss auf. Großen Durst. Irgendetwas muss passieren!

Sie öffnet den Küchenschrank. Fegt alles Porzellan aus den Fächern, bis es auf dem grauen PVC-Fußboden zerschellt. "Bist du verrückt?" René springt auf sie zu, schlägt, reißt ihr die Kleider vom Leib, vergewaltigt sie. Die Kinder schauen erschrocken zu. Sie weint und schluchzt, willenlos, gebrochen. "Du bist nichts ohne mich, du kannst ohne mich nicht leben!", brüllt er sie an, triumphierend. Sie fühlt sich wie ein Häufchen Dreck. Ohnmacht. Sie kann ihm nicht entrinnen. Unendlichkeit des Schmerzes.

Katharina zur Polizei: "Bringen Sie mich bitte in ein Krankenhaus. Ich habe vor zwei Tagen einen Selbstmordversuch gemacht." Glasklar ist sie im Kopf. Wie wenn Scherben die Gehirnmasse durchtrennen. Die Polizeibeamtinnen nehmen sie mit. Im Krankenhaus ruft sie die Polizei an: "Bringen Sie die Kinder in ein Heim. Ihr Vater ist gewalttätig. Er hat sie schon mal geschlagen." Die Polizei fährt die Kinder von zu Hause fort.

Katharina entlässt sich nach wenigen Stunden selbst aus der Psychiatrie, nein, aus der Krise, darauf legt sie viel Wert. Sie war doch nicht in der Psychiatrie! Ihre Haare lässt sie sich abschneiden und rot färben. Niemals wieder soll René sie am Haarschopf packen und hinter sich herziehen. Ihre Gesichtshaut ist nach einigen Tagen durch die Psychopharmaka picklig geworden. Ihre Eltern pflegen sie. Ihre Hände zittern so, dass sie diese festhalten muss, um den Antrag auf Heimunterbringung der Kinder zu unterschreiben. Nun will sie sich endgültig von René trennen. Das Sozialamt verlangt von ihr, dass sie ihn wegen Körperverletzung und Vergewaltigung anzeigt. Das macht sie. Eine Bannmeile wird gegen den Täter verhängt. Die Frauenärztin, die die Verletzungen dokumentieren sollte nach dem Geheiß der Polizei, hat keinen Fotoapparat. Die Bilder, die Helene schießt, sind untauglich. Der Vater fotografiert sie mit bloßem Unterleib, die blauen Flecke an den Oberschenkeln, ja, wie damals. Katharina rennt zum Klo und scheißt, scheißt, scheißt, der Körper rebelliert. Ihr Geist ist durcheinander. Sie weint.

Bei der Gerichtsverhandlung sitzen sie sich gegenüber. Katharina und René. Er schaut sie an: "Ich liebe dich doch immer noch, komm' zu mir zurück!" Er hat Tränen in den Augen. Wenn er verurteilt wird, kann es sein, dass er abgeschoben wird.

"Was soll mit dem Hund werden? Ich lebe in einem Wohnheim. Da kann ich ihn nicht mitnehmen."

Die Kinder haben René längst verraten, wo sich die Mutter aufhält.

Die Miet- und Bewag-Schulden werden übernommen. Katharina lebt wieder in ihrer Wohnung. Ihr Arzt hat seine Praxis in der Straße, in der ihr Mann wohnt. Er übergibt ihr den Hund, den großen, mit den treuen Augen, der so gern an den Hintern von Frauen schnüffelt und seine feuchte Nase zwischen ihre Beine bohrt. Während Tomasz und Boris im Heim "ficken" spielen.

Sie besucht René. Ja, sie liebt ihn auch noch. Sie ist so allein. Der Hund kann sie nur kurz trösten. Ihre Eltern wollen dauernd, dass sie ihnen hilft. Ihr Vater arbeitet nun auf dem Bau. Der dicke Bruder hat auch eine Beschäftigungs-Maßnahme erhalten. Mit seinen 20 Jahren möchte er ausziehen. Sie soll beim Renovieren helfen. Die Schwester und der Schwager, die das machen wollten, haben den Kontakt abgebrochen. Auch Katharina hat die Beziehung beendet. Helene hat zu ihr gesagt: "Wenn du noch einmal zu anderen Leuten sagst, dass mein Mann in Russland im Gefängnis saß, zeige ich dem Jugendamt die Fotos von deiner Wohnung, die ich für dich machen sollte, nachdem du dich mit deinem Mann geprügelt hattest. Weißt du noch, wie sie da aussah? Du wolltest ihn bei der Polizei anzeigen. Aber du warst es genauso. Das hätte ich gesagt. Dann bekommst du die Kinder nie wieder!"

Zwei Monate konnten Katharina und René ihr Geheimnis bewahren, dass sie wieder zusammen waren.

"Ich bringe den Hund in das Tierheim. Ich kann kein Futter mehr kaufen", erklärt Katharina ihren Eltern und ist um 23:30 Uhr noch immer nicht zurück. Der Vater macht sich Sorgen und will eine Vermisstenanzeige aufgeben. Der Polizist schmunzelt nur: "Wissen Sie denn nicht, dass der Partner Ihrer Tochter sich schon längst wieder bei ihrer Wohnung angemeldet hat?"

Der Vater informiert das Jugendamt, denn eine Osterbeurlaubung der Kinder zu ihrer Mutter komme doch nun nicht mehr infrage! Die Rechtsanwälte von René und Katharina wetzen weiter ihre Messer. Sie wissen das noch nicht. "Einer Beurlaubung von Tomasz und Boris zu ihrer Mutter stimme ich nur zu, wenn die Kinder ebenfalls die gleiche Zeit bei ihrem Vater verbringen dürfen."

Was sollen die Scheingefechte? Oder hat Katharinas Vater seine Tochter nur denunziert, um sich zu rächen, weil sie seinen sexuellen Missbrauch an ihr publik machen wollte? Oder war es der Großvater?

Am Freitag steht Katharina im Heim und will die Kinder abholen. Urlaubssperre.

Der Gutachter von B. sorgt dafür, dass dem Vater die Kinder zugesprochen werden. Sie ziehen zu ihm und der Mutter nach Treptow. Dies war ein Fall, den Frau Wegner am Anfang ihres Dienstes im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst hatte. Sie erinnert sich daran, wie sie mit ihrem Chef in das Kinderheim Girlitzweg ging. Im Krisenzimmer waren die Tapeten teilweise abgerissen. Das machen Kinder, wenn sie wütend sind. Bei dem Besuch waren Tomasz, Boris und der Gutachter zu sprechen. Der Gutachter war vaterfreundlich wie auch der Teamleiter von Frau Wegner. Bei diesem Gutachter machte Frau Wegner später ihre Verfahrensbeistandsschafts-Ausbildung. Er zog zwei Töchter allein auf. Bei seiner Empfehlung, die Kinder aus dem Heim zu ihren Eltern zu entlassen, hatte Frau Wegner "Bauschmerzen", aber was konnte sie gegen eine gerichtliche Entscheidung machen? Als Sozialarbeiterin kann man dagegen vorgehen, aber wenn der Chef und der Gutachter sich anders ausgesprochen haben, hat man da keine Chance. Das Gericht entscheidet meistens nach der Empfehlung des Gutachters.

Frau Wegner kann sich gut daran erinnern, als sie einmal einen angekündigten Hausbesuch in der Familie machte, um die Familienhelferin vorzustellen. "Nein, das geht jetzt nicht. Wir müssen erst zum Rathaus Neukölln, Geld holen. Wir haben nichts mehr zu essen."

Frau Wegner kaufte bei "Aldi" eine Tüte mit Lebensmittel ein. So konnte die Hilfekonferenz doch noch stattfinden.

Einmal wollte die Familie um 19 Uhr in die Sonnenallee zu einem Gespräch in die Dienststelle kommen. Frau Wegner kam extra von zu Hause noch einmal ins Amt. Die Familie erschien nicht und sagte auch nicht ab.


© Reinhild Paarmann, Januar 2023.

Die Geschichte ist mit Erlaubnis der Autorin dem Buch entnommen:
Reinhild Paarmann: Der Storymaker und andere Neuköllner Geschichten.
Stolzalpe/Österreich 2021, Wolfgang Hager Verlag.


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2023/01/18


Otto Pankok (1893-1966):
Das Sinti-Mädchen Ehra


ehra
Die Statue befindet sich im Gut Esselt in Hünxe-Drevenack, im dortigen Otto-Pankok-Museum.
Foto von © Dagmar Sinn, November 2022.


Bei Wikipedia heißt es zu der Statue:

"Otto Pankok beschäftigte sich ab den 1930er Jahren ausführlich mit dem Thema Zigeuner und schuf zahlreiche Bilder von Sinti- und Romakindern. Eines seiner Modelle war das Mädchen Ehra. Ehra wurde während des Dritten Reiches im Düsseldorfer Lager am Höherweg in Lierenfeld interniert, wo die rund 200 Düsseldorfer Sinti und Roma festgehalten wurden. Sie wurde 1940 in ein KZ deportiert... Ehra, die von Pankok immer wieder abgebildet worden war, starb Jahrzehnte nach ihrer KZ-Haft."

Seht bitte auch das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma vom 2022/10/22 auf kuhlewampe.net.


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2023/01/15


Wolfgang Weber
The grill's gone now

Textetisch 07.09.2022, Thema Extrawurst


Extrawurst, Sonderbehandlung, extra groß, extra stark, Privileg, Vorzugsbehandlung, ein Solist am Mikro, featuring guest star wer auch immer, bekommt eine Extrawurst gebraten, für den großen Hunger, früher, vielleicht in manchen Gegenden heute noch, für den Herrn im Haus, großer Appetit. Es ist eine Wurst mehr, eine größere, vielleicht ist die Extrawurst sogar vegan, so paradox das auch erscheint.

Gibt es sie noch, die Grillwalker? Sie haben ein Metallgestell um den Hals, in dem Würstchen erwärmt werden, schwer zu tragen, heiß noch dazu. Eine Frühform des Kapitalismus, womöglich sind diese Herren, Damen habe ich bis jetzt nicht mit diesem laufenden Grill gesehen, formell eigenständige Unternehmer. Ich würde es eher Pseudo-Unternehmer nennen, Unternehmen mit einer einzigen Person.

Besonders weit verbreitet sind / waren diese Grills auf Beinen, womöglich gab es sogar Rollen, dann wäre das ganze nicht ganz so frühkapitalistisch-ausbeuterisch, besonders häufig in Touristengegenden wie Alex, Unter den Linden. Tourist & Grillwalker sehen sich womöglich nur ein einziges Mal & nie wieder.

Wenn solch ein Areal abgegrast ist, soweit Grill & Walker grasen können auf Asphalt, zieht der Walker mitsamt Grill ein paar Ecken weiter & findet dort neue Touristen & auch Berliner, die sich eine Extrawurst gönnen, die sie oft im Gehen vertilgen. Denn Berliner & Touristen haben es immer eilig, da mag Mostrich oder Senf noch so sehr zu Boden tropfen oder gar auf deren Kleidung.

The grill's gone now ist eine Berliner Version von B.B. King's The thrill is gone.


© Wolfgang Weber, Januar 2023.


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2023/01/12


Tagebuch 1973, Teil 63: Colombo/Sri Lanka

von Dr. Christian G. Pätzold


srilanka
Karte von Sri Lanka. Quelle: Botschaft von Sri Lanka.


2. Dezember 1973, Colombo, Sonntag

Sri Lanka ist weltberühmt für seinen Zimt und für seinen Tee, aber wir wurden durch unsere Kontaktadressen in Colombo zunächst in die aktuelle politische Situation hineingezogen. Morgens haben wir das buddhistische Leben kennen gelernt, mit dem Verteilen von Speisen an die Mönche und dem Singen von buddhistischen Gesängen. Die tropische Vegetation war hier sehr üppig. Auch in Sri Lanka wie in Indien konnten die gebildeten Leute alle Englisch, so dass wir uns gut unterhalten konnten. Das war noch eine Nachwirkung der englischen Kolonialherrschaft.

Nach dem Frühstück sind wir zur Adresse von H. de Silva gegangen, die wir in Indien erhalten hatten. Es war anscheinend eine Familie von Burghern. H. de Silva hat uns in der jüngeren Ceylonesischen Geschichte unterrichtet. Später im Hotel hat uns auch der Besitzer, ein ehemaliger Staatsdiener, über die jüngere Geschichte von Ceylon erzählt.


3. Dezember 1973, Colombo, Montag

Mittags sind wir zur Ceylonese Mercantile Union (CMU) gegangen und hatten ein Gespräch mit dem Generalsekretär Bala Tampoe. Bala Tampoe (1922-2014) war ein Rechtsanwalt, ein berühmter eloquenter Redner, ein Gewerkschaftsführer und der Vorsitzende der sri-lankischen Sektion der 4. Internationale. Die 4. Internationale war der internationale Zusammenschluss der Trotzkisten. Wir sprachen mit Bala Tampoe über die aktuelle politische Situation in Sri Lanka, über seine Gewerkschaft und seine Reiseerlebnisse. Er erzählte uns von einem Erlebnis mit Henry Kissingers Hausmädchen, die Pointe der Geschichte habe ich leider inzwischen vergessen. Die CMU war eine White-Collar-Worker Gewerkschaft, in der hauptsächlich Büroarbeiter in den Banken und im Export in Colombo organisiert waren. Bala Tampoe bezifferte die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf etwa 35.000. Wir kamen auf die Insurrection von 1971 zu sprechen und er berichtete uns von Vergewaltigungen und Massakern nach der Insurrection und hat uns Beweisfotos gezeigt.

Bala Tampoe besaß einen Volkswagen Baujahr 1963, der jährlich im Wert stieg. Denn in Sri Lanka gab es einen Importstopp für Autos, wegen Devisenmangels. In Sri Lanka selbst gab es keine Produktion von Autos. Er war sauer, dass er nicht von der Sowjetunion oder von der Volksrepublik China eingeladen wurde, obwohl seine Gewerkschaft bedeutend sei. Aber das war ja kein Wunder. Weder Moskau noch Peking wollten etwas mit einem Trotzkisten zu tun haben. Bei den Akademikern und den Politikern gab es so eine Stufenleiter der Wichtigkeit. Je öfter man ins Ausland eingeladen wurde, desto wichtiger war man im eigenen Land. Für Morgen hat uns Bala Tampoe zu dem Gerichtsprozess gegen Rohana Wijeweera und andere Anführer der Insurrection von 1971 eingeladen, da er dort zwei Angeklagte verteidigte.


4. Dezember 1973, Colombo, Dienstag

Morgens sind wir zur Criminal Justice Commission gegangen, einem Gericht, das speziell für den Prozess gegen die Anführer des Jugendaufstandes von 1971 eingerichtet worden war. Den Leadern wurde gerade der Prozess gemacht, alles musste ins Englische übersetzt werden, da 2 Richter kein Sinhala sondern nur Englisch verstanden. Das war natürlich gut für uns, da wir auch kein Sinhala sprachen. Rohana Wijeweera (1943-1989) war der Hauptangeklagte und lehnte die Verantwortung für den Jugendaufstand der JVP (People's Liberation Front) ab bzw. auch die Mitwisserschaft, da der Aufstand im April 1971 stattfand, er und andere Führer aber schon im Februar 1971 verhaftet worden waren und im Gefängnis saßen. Die Richter forderten von Rohana Wijeweera, dass er seine Schuld an der Insurrection zugebe und boten an, dass sie dann die Mitläufer frei lassen würden. Zum Ende des Prozesstages gab es dann noch eine Auseinandersetzung über die Frage, wie viele Sprachen Rohana Wijeweera spreche. Die Anklage behauptete, Wijeweera hätte gesagt, dass er 5 Sprachen spreche, und die Leute hätten ihm deswegen als Leader geglaubt. In Wirklichkeit könne er aber nur Russisch und Sinhala und etwas Englisch sprechen. Übrigens sind wir beim Eintritt ins Gericht nicht untersucht worden, auch nicht unsere Taschen. Das zeigte, dass die Sicherheitslage als entspannt eingeschätzt wurde.

Nachmittags hatten wir ein Gespräch mit Mr. Nagalingam Shanmugathasan (1920-1993), dem Anführer der Ceylon Communist Party (Peking Wing) (CCP). Er war 2x in die Volksrepublik China eingeladen worden und hatte während der Kulturrevolution dort auch vor Rotgardisten gesprochen. In unserem Gespräch sah er die chinesische Politik vordringlich als Staatspolitik und Machtpolitik, um den Einfluss der Sowjetunion in Asien zurückzudrängen. Rohana Wijeweera bezeichnete er als sowjetischen Agenten, der die maoistische Bewegung in Ceylon zerschlagen sollte, die in den 1960er Jahren an Anhang gewann. Er sagte, es sei ein Fehler gewesen, Wijeweera in die Partei aufzunehmen. (Rohana Wijeweera war vor der Gründung seiner JVP Mitglied der CCP Pekingflügel). Im Zimmer von Nagalingam Shanmugathasan hingen große Fotos von ihm mit Mao Tse-tung und mit Enver Hoxha, und es standen zahlreiche Andenkenmitbringsel aus China im Raum.


© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2023.


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2023/01/09


Historischer Überblick Ceylon/Sri Lanka seit der Unabhängigkeit


1948: 4. Februar: Unabhängigkeit Ceylons vom British Empire.
Die United National Party (UNP), die eine nach England ausgerichtete Politik verfolgte, bildete die Regierung.

1952: Mr. S.W.R.D. Bandaranaike (1899-1959) gründete eine eigene Partei, die Sri Lanka Freedom Party (SLFP), die eine singhalesisch buddhistisch nationalistisch sozialistisch ausgerichtete Politik verfolgte.

1956: Die People’s United Front (SLFP mit 3 weiteren Parteien) siegte bei der Wahl, Mr. S.W.R.D. Bandaranaike wurde Premierminister.

1959: September: Mr. S.W.R.D. Bandaranaike wurde ermordet, angeblich steckten reiche Leute dahinter, da es Sozialisierungen gab.

1960: Die SLFP gewann die Wahl unter Mrs. Sirimavo Bandaranaike, der Frau von Mr. S.W.R.D. Bandaranaike. Sie wurde die weltweit erste Frau als Premierministerin. Sie war Premierministerin bis 1964, und erneut ab 1970.

1961: Spaltung in der KP Ceylon in einen Moskauflügel und einen Pekingflügel.

1964: Dezember: Die UNP gewann die Wahl.

1970: Mai: Wahlsieg der United Front: Mrs. Bandaranaike bildet das United Front Government mit SLFP, LSSP (Lanka Sama Samaja Party, Lanka Socialist Party, Trotzkisten) und CPSL (Communist Party of Sri Lanka, KP Moskauflügel).

August: Erste Großkundgebung der People’s Liberation Front (JVP, Janatha Vimukthi Peramuna) unter Führung von Rohana Wijeweera (geb. 1943) in Galle Face. 15.000 junge Leute waren da. Rohana Wijeweera war ein marxistisch-leninistischer Revolutionär und der Gründer der JVP, aber kein erklärter Maoist. Er war wahrscheinlich so etwa wie eine Mischung aus Che Guevara und Rudi Dutschke. Er hatte Kontakte nach Nord-Korea.

1971: 27. Februar: Letztes Treffen der JVP, Verhaftung der Führer.
5. April: Jugendaufstand der JVP (Insurrection), der durch Truppen niedergeschlagen wurde.

1972: Änderung des Namens des Landes von Ceylon zu Sri Lanka.


In Sri Lanka gab es 7 Bevölkerungsgruppen:

Die Singhalesen: Die Bevölkerungsmehrheit. Traditionell Buddhisten, einige Katholiken. Sie sprechen Sinhala. Sie kamen vor etwa 2.500 Jahren aus Nord-Indien nach Sri Lanka. 2012 gab es 15,2 Millionen Singhalesen, das waren 74,9 % der Bevölkerung von Sri Lanka. Singh bedeutet auf Nord-Indisch Löwe. Daher ist auf der sri-lankischen Nationalflagge auch ein Löwe abgebildet, obwohl es in Sri Lanka gar keine Löwen gibt, im Unterschied zu Nord-Indien.

Die Sri-Lanka Tamilen: Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe. Sie leben vor allem im Norden und Osten von Sri Lanka. Traditionell Hindus, einige Katholiken. Sie sprechen Tamil.

Die Indischen Tamilen: Im Zentrum des Landes. Sie wurden aus Indien von den Engländern als Teeplantagenarbeiter nach Sri Lanka gebracht. Sie sind traditionell Hindus.

Die Moors: Muslime.

Die Malays: Malaiisch sprechende Muslime.

Die Burghers: Nachfahren von Niederländern und Portugiesen. Traditionell Christen. Die Niederländer und die Portugiesen hatten vor den Engländern Handelsniederlassungen in Colombo. Exportartikel waren Gewürze, vor allem Zimt.

Die Veddas: Die Ureinwohner Sri Lankas, traditionell Jäger und Sammler. 2002 gab es noch etwa 2.500 Veddas. Man kann daher sagen, dass die Veddas fast ausgestorben sind. Sie haben sich weitgehend mit den benachbarten Singhalesen und Tamilen vermischt.


Übersichten zusammengestellt von Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2023.


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2023/01/05


Tagebuch 1973, Teil 62: Madras IV - Colombo

von Dr. Christian G. Pätzold


26. November 1973, Madras, Montag

Ich saß weiter in Madras fest und habe auf die Verlängerung meines Reisepasses durch das deutsche Konsulat gewartet. Um meinen Gesundheitszustand abzuchecken, wollte ich noch mal eine Untersuchung auf Amöben oder Bakterien machen lassen, obwohl ich keine Symptome hatte. In dem Government Hospital waren schlimme Zustände, viele Kranke lagen in den Gängen und warteten auf Behandlung. Mir schien es widersprüchlich, einerseits gab es viele ausgebildete medizinische Kräfte, die arbeitslos waren, andererseits gab es in den Krankenhäusern zu wenig Personal. Ich wurde von einem Angestellten zu einem Laboratorium geschickt, das aber eine Bruchbude war.


27. November 1973, Madras, Dienstag

Ich habe Herrn Kopp im Deutschen Konsulat angerufen, aber die Erlaubnis aus Deutschland für die Passverlängerung war noch nicht da. Um die Stimmung etwas aufzuheitern, habe ich tamilische Kuchen und Süßigkeiten gekauft. Im Hotel New Victoria habe ich Geld gewechselt, zum Kurs von 1 DM zu 2,85 Rupees. Ich brauchte ja Rupees, um das Flugticket von Madras nach Colombo und Singapore zu bezahlen.


28. November 1973, Madras, Mittwoch

Heute waren wir im Fort St. George, eine historische Befestigungsanlage der Engländer, die im Zentrum von Madras am Meer liegt. Das Fort war ursprünglich von der East India Company als Stützpunkt angelegt worden, um mit Indien Handel zu treiben.


29. November 1973, Madras, Donnerstag

Heute wurde mein Reisepass vom Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Madras für 5 Jahre verlängert. Endlich. Ich musste eine Gebühr von 9 Rupees zahlen.


30. November 1973, Madras, Freitag

Morgens habe ich das Flugticket Madras - Colombo - Singapore für 1.365,- Rupees bei BOAC (British Overseas Airways Corporation) gekauft. Wir sind zum Flughafen gefahren und haben versucht, auf den Air Ceylon Flug zu kommen. Das Flugzeug war aber schon voll, der Manager hat uns den Flug für morgen versprochen. Außerdem streikte das Indian Airlines Personal, so dass viele Flüge ausfielen.


1. Dezember 1973, Madras - Colombo, Sonnabend

Am Morgen erhielten wir im Air Ceylon Office das ok für unseren Flug nach Colombo. Mit der Bahn sind wir zum Flugplatz Meenambakkam gefahren. Die Ausreise aus Indien war problemlos. Wir waren 2 Monate lang kreuz und quer durch Indien gereist und hatten eine Menge erlebt. Als Fazit kann ich sagen, dass sich eine Reise nach Indien lohnt, da man dort immer viel Neues dazu lernt. Als tropisches Land hat Indien schon mal ein ganz anderes Klima und eine andere Flora und Fauna als Deutschland. Außerdem hat Indien eine Jahrtausende alte kulturelle Geschichte, die ganz anders verlaufen ist als in Europa. Der Flug von Madras nach Colombo hat nur 1½ Stunden gedauert. Auch Sri Lanka gehört geografisch zum Indischen Subkontinent und ähnelt in Vielem Indien.

Am Bandaranaike International Airport in Colombo gab es keinerlei Zollkontrolle. Nur unsere Impfausweise wurden kontrolliert, wegen Cholera in Jaffna. Colombo war die Hauptstadt von Sri Lanka. Der Name Colombo bedeutet auf Singhalesisch (oder Sinhala) Hafen. Im Park Rest Guest House haben wir ein Zimmer mit Bad für 15 Rupees gefunden. Der offizielle Wechselkurs war 1 DM = 4 Rupees. Das Hotel wurde von einer buddhistischen Familie betrieben. Alternativ hätte die Jugendherberge 5 Rupees pro Bett gekostet, wobei Männer und Frauen getrennt untergebracht wurden.


Ausgaben in Indien vom 1. Oktober 1973 bis 1. Dezember 1973 (62 Tage)
750 DM (davon 30 DM Arztkosten)
Durchschnitt: 12 DM pro Tag.
Flugticket Madras - Colombo - Singapore: 460 DM (ca. 175 US-Dollar).


Postskriptum zur Situation in Sri Lanka in den letzten 50 Jahren, Januar 2023

Sri Lanka ist eine wunderschöne tropische Insel, die leider in den letzten 50 Jahren einige Krisen erlebt hat. Eigentlich müssten die Menschen im Wohlstand leben, denn die üppige Natur bietet alle Nahrungsmittel für die Einwohner. Aber ein großes Problem war, dass auf der Insel 2 Völker leben, die Tamilen im Norden und die Singhalesen im Süden. Die Tamilen wollten die Unabhängigkeit und ihren eigenen Staat, während die Singhalesen die Herrschaft über die ganze Insel für sich beanspruchten. So kam es zu einem jahrelangen mörderischen Krieg (1983-2009), der die Insel zu einer Hölle machte.

Zusätzlich ist es der Staatsführung nicht gelungen, die wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Dabei spielte vielleicht auch der wachsende Bevölkerungsdruck eine Rolle. Die Auslandsverschuldung Sri Lankas stieg immer mehr, bis das Land Pleite war. Es kam zu starken Preissteigerungen und zu Volksaufständen. Und so befindet sich Sri Lanka heute in einer kritischen Situation, die man den Menschen Sri Lankas wirklich nicht wünschen kann.

Das Problem der 2 Völker auf einer relativ kleinen Insel bleibt bestehen. Das hat auch auf anderen Inseln zu Kriegen geführt. Zum Beispiel auf Zypern, wo Türken im Norden und Griechen im Süden leben. Oder in Irland, wo Briten im Norden und Iren im Süden leben.


Postskriptum zu den Namen Ceylon/Sri Lanka, Januar 2023

Sri Lanka hieß bis 1972 offiziell Ceylon. Ceylon war der historische Name der englischen Kolonialherren für die Insel. Nach 1972 setzte sich der neue Name Sri Lanka immer mehr durch.

© Dr. Christian G. Pätzold, Januar 2023.


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2023/01/01


Das Kriegsjahr 2022

von Dr. Christian G. Pätzold


Das vergangene Jahr 2022 war schon das 3. Coronavirus-Pandemie-Jahr, mit 50.000 Corona-Toten in Deutschland. Das waren im Schnitt 1.000 Tote jede Woche. Aber 50.000 Tote scheinen viele Menschen nicht besonders beunruhigt zu haben. Im Gegenteil, ständig wurden Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen gefordert. Wenn es 500.000 Tote gewesen wären, wäre die Reaktion der Bevölkerung wahrscheinlich anders gewesen. Auch in der Volksrepublik China war die Regierung nach Protesten der Bevölkerung gezwungen, die Null-Covid-Politik aufzugeben und die Maßnahmen zu lockern. Jedenfalls atmete die Deutsche Rentenversicherung auf. 50.000 Rentner:innen weniger in der Rentenkasse. Dadurch und durch die hohe Inflation hat die Rentenversicherung einen schönen Milliardenüberschuss im Jahr 2022 erwirtschaftet.

Und als ob Corona nicht schon schlimm genug war, kam im Februar auch noch der Krieg in der Ukraine hinzu. Am 24. Februar 2022 marschierte die russische Armee in der Ukraine ein. Der Krieg wurde als "Militärische Spezialoperation" bezeichnet und durfte in Russland nicht Krieg genannt werden, denn man wollte im Kreml nicht als offizieller Kriegstreiber dastehen. Russland drohte mit dem Einsatz von Atomraketen. Das größte Atomkraftwerk Europas in Saporischschja stand im März in der Gefahr, in die Luft zu fliegen. Der russische Präsident Wladimir Putin wollte mit seinen Panzern in 4 Tagen in Kiew sein, ist dann aber bald vor der ukrainischen Hauptstadt gestoppt worden. Auf einen verlustreichen Häuserkampf in Kiew wollte er sich nicht einlassen. Er hatte wohl auch das Talent des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unterschätzt, der Hilfsappelle an die ganze Welt sendete.

Die Stadt Mariupol am Asowschen Meer wurde von russischen Bomben auf den Erdboden reduziert. Putin rühmte sich sehr dafür, dass er das Asowsche Meer zu einem Binnenmeer der Russischen Föderation gemacht hat. Dann kamen Berichte von Massakern an Zivilisten beim Rückzug der russischen Armee nahe Kiew. Die USA haben an die 40 Milliarden Dollar für Militärausrüstung für die Ukraine gezahlt, und später noch mehr. Und die Ukraine hatte viel mehr Soldaten als die russische Armee. Die deutsche Bundesregierung hat sich im April immer tiefer in den Krieg hineinziehen lassen, durch Waffenlieferungen, auch von schweren Waffen wie Panzer-Haubitzen, an die Ukraine.

Die Gaslieferungen an Deutschland wurden von der russischen Regierung immer mehr gedrosselt. Über die Gas-Pipeline Nordstream 1 flossen nur noch 20 % der Kapazität. Die Gas-Pipeline Nordstream 2 wurde von der deutschen Regierung nicht in Betrieb genommen, als Sanktion gegen Russland. Es drohte ein sehr kalter Winter in Deutschland. Im Sommer war dann etwas Flaute im Kriegsgeschehen. Aber im August wurde das Atomkraftwerk Saporischschja beschossen, das von russischen Truppen besetzt war. Das AKW Saporischschja ist das größte AKW Europas mit 6 Reaktorblöcken. Es drohte eine Atomkatastrophe, die ganz Europa radioaktiv verstrahlen konnte.

Im September gab es dann einen Vormarsch der ukrainischen Truppen im Nordosten im Gebiet Charkiw. Ende September folgte die Mobilmachung von 300.000 Soldaten in Russland, da man nicht genug Soldaten an der Front hatte. Außerdem veranstaltete Russland Referenden in den Gebieten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson für den Anschluss an Russland. Erwartungsgemäß stimmten 99 % für den Anschluss. Die 4 Gebiete wurden von Putin offiziell mit großem Pomp annektiert.

Ab Mitte September kam überhaupt kein Erdgas mehr aus Russland nach Deutschland. Die Strompreise und die Gaspreise in Deutschland schossen in immer absurdere Höhen. Zusätzlich sollte von der Bundesregierung im Oktober eine Gasbeschaffungsumlage eingeführt werden, die die Gaspreise weiter erhöht hätte. Dieses Vorhaben wurde wieder gestrichen, aus Angst vor Protesten in der Bevölkerung und vor einem heißen Herbst. Viele Menschen wussten nicht mehr, wie sie ihre Energierechnungen bezahlen sollten, zumal auch die Lebensmittel immer teurer wurden. Die Inflationsrate in Deutschland erreichte im September 10 % gegenüber dem Vorjahresmonat, 11% im Oktober Das war die höchste Inflation seit dem Ende des 2. Weltkriegs.

Innerhalb der deutschen Linken bestand die vorherrschende Meinung, dass es sich bei dem autokratisch-kapitalistischen Russland um einen imperialistischen Staat mit Großmachtambitionen handele. Die Ukraine wurde als Vasall des US-Imperialismus und seiner westeuropäischen Satelliten gesehen. Entsprechend wurde der Ukraine-Krieg als Krieg zwischen 2 Räubern, zwischen 2 imperialistischen Mächten gesehen. Trotzdem gab es innerhalb der deutschen Linken auch spitzfindige Diskussionen um den Imperialismus-Begriff. Einige Linke betrachteten die Russische Föderation sogar als einen Teil des "Globalen Südens", obwohl Russland ziemlich nahe am Nordpol liegt und ein Hochtechnologieland ist.

Ab Oktober hat die russische Armee dann gezielt die ukrainische Infrastruktur zerbombt, besonders das Stromnetz, die Wasserversorgung und die Wärmeversorgung. Vielleicht war beabsichtigt, Arbeitskräfte mit der Reparatur der Netze zu binden, die dann nicht an der Front kämpfen konnten. Vielleicht sollten auch angesichts des bevorstehenden Winters und der Kälte die Ukrainer zur Flucht nach West-Europa getrieben werden, um Druck auf die EU zu machen.

Im November musste sich die russische Armee aus der Stadt Cherson auf das Ostufer des Dnepr (ukrainisch Dnipro) zurückziehen, weil der Druck der ukrainischen Armee zu stark wurde. Ende November hat die ukrainische Regierung die Bevölkerung dazu aufgerufen, das Land zu verlassen, da die Stromversorgung, die Wärmeversorgung und die Wasserversorgung nicht mehr gewährleistet werden konnten.

Am 17. Dezember wurde das erste Flüssiggas-Terminal (LNG) Deutschlands in Wilhelmshaven in Betrieb genommen, um das fehlende russische Gas zu ersetzen. Für Strom, Gas und Fernwärme wurden Preisdeckel für Verbraucher von der Bundesregierung eingerichtet. So viel zum Kriegsgeschehen im vergangenen Jahr 2022 und es ist kein Ende des Krieges absehbar.

Wie jedes Jahr im Januar hat sich wieder das Hintergrundbild von kuhlewampe.net geändert. An der Stelle der munteren Blüten der Felsenbirne vom vergangenen Jahr, die uns alle erfreuten, sind jetzt Edelsteine in weißem Marmor zu sehen, die vom Taj Mahal in Agra in Indien stammen. An islamischen Gebäuden dürfen keine Menschen dargestellt werden. Daher findet man dort als Schmuck oft florale Motive und geometrische Muster.

Ich möchte allen Kreativen sehr danken, die im vergangenen Jahr so viel zu kuhlewampe.net beigetragen haben: Wolfgang Weber, Reinhild Paarmann, Sabine-Simmin Rahe, Ella Gondek, Karl-Heinz Wiezorrek, Dagmar Sinn, Dr. Karin Krautschick, Dr. Wolfgang Endler, Dr. Hans-Albert Wulf, Anke Sabrowski und Horst Felix Palmer.


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